Casa de la Concepción – “CAL DRAPAIRE”
Die neoklassizistische Fassade des enormen Wohnblocks sticht sofort ins Auge, sobald wir in Barcelona die Plaça d’Espanya umrundet, die beiden venezianischen Türme und den oben auf dem Montjuïc thronenden Palau d’Exposicions aus der Weltausstellung von 1929 hinter uns gelassen haben und die Gran Vía de les Corts Catalanes drei Querstraßen entlang Richtung Süden gegangen sind.
Während das mächtige Wohngebäude bis zu den 1940er Jahren noch “allein auf weiter Flur” stand, ist es nunmehr von nicht minder hohen Wohnblöcken umgeben. Doch weiterhin übt das spektakuläre Gebäude, das in Stil und Dimensionen eher einen Platz an der Diagonal verdient hätte, eine geheimnisvolle Anziehungskraft aus. Einige Gerüchte ranken sich um diesen außergewöhnlichen Wohnblock mit den Hausnummern 272 bis 282. Doch davon später.
Errichtet wurde der als “Cal Drapaire” bekannte Häuserblock in den Jahren 1925 bis 1927 von einem zu Reichtum gelangten Trödelhändler (Drapaire). Pau Fornt i Valls wollte hiermit den Armenvierteln der Gegend etwas entgegensetzen und Wohnraum für etwa 1000 Menschen schaffen. Barcelona hatte sich zwischen den beiden Weltausstellungen von 1888 und 1929 durch die Zuwanderung von unzähligen Arbeitssuchenden nebst Familien aus allen Teilen Spaniens zu einer rasant wachsenden Industriestadt entwickelt.
Fornt i Valls wurde 1869 im kleinen katalanischen Dorf Sant Pere de Riudebitlles (Alt Penedés) als dritter Sohn eines Weinfassherstellers geboren. Im Alter von 12 Jahren ging er als Gehilfe zum Trödelhändler und Grundstücksbesitzer Jaume Aloi nach Barcelona und stürzte sich mit Feuereifer ins Geschäft. Mit 16 Jahren machte er sich mit dem Bau eines Lagers in Sants selbständig, kaufte preiswert, verkaufte zum meistbietenden Preis und dehnte seinen Radius in den Folgejahren bis nach Frankreich und England aus. 1901 erforschte er den Markt in den USA.
Wohnhaft in Sants, Carrer Guadiana 25, fand Fornt für seine ambitiösen Bebauungspläne bald ein großflächiges Grundstück am Fuße des Montjuïc. 1925 erhielt er die Baulizenz zur Errichtung eines Gebäudes über 7.119 m² Grundfläche und 82 m Länge an der Gran Vía mit derzeit 276 Wohneinheiten zur Vermietung von monatlich 125 Peseten.
Die einheitliche Fassade des Gebäudes, dessen Bewohnerzahl einer Dorfgemeinschaft gleichkommt, galt bis zur Errichtung 1993 des Geschäftskomplexes “L’Illa” an der Diagonal als die längste Barcelonas.
Sechs Eingänge strukturieren die Fassade des Wohngebäudes. Schwere Eingangstüren aus geschnitztem Holz mit Glas und geschnörkelten Eisengittern führen in die Treppenhäuser aus weißem Marmor mit Treppengeländern aus massivem, dunkel lackierten Holz. Die Treppenaufgänge waren seinerzeit mit den modernsten technischen Errungenschaften ausgestattet wie den jeweiligen Aufzügen bis zu den 9., 10. oder 11. Stockwerken und Haustelefonen zwischen Erdgeschoss (Hausmeister) und den verschiedenen Etagen. Zwei Geschäfte neben jedem Eingang – Bäckerei, Lebensmittelgeschäft, Café, Restaurants, Apotheke, sogar ein Postamt – boten und bieten den Bewohnern die nötigen Einkaufsmöglichkeiten. Darüberhinaus sollen noch unterirdische Gänge unter dem Gebäudekomplex existieren, die im Bürgerkrieg als Refugium oder Versteck dienten. Die Dachterrassen erstrecken sich über je zwei Hauseingänge und bieten einen wundervollen Panoramablick auf den Montjuïc und den Tibidabo.
Lange war es dem Erbauer dieses spektakulären Wohnhauses, das er seiner Frau widmete (“Concepción” – eine gleichnamige Madonnenskulptur, die bis zum spanischen Bürgerkrieg erleuchtet war, schmückt die oberste Etage des Mitteltraktes), nicht vergönnt, seine zweistöckige komfortable Dachwohnung in Nummer 278 zu genießen. 1936, zu Beginn des spanischen Bürgerkrieges, wurde er von Aktivisten der faschistischen Falange ermordet.
Nun will ich preisgeben, dass ich 1993 eine kleine Wohnung mit zwei Balkonen im Mitteltrakt des Hauses, Nr. 278 im 6. (offiziell 4. nach “Entresol” und “Principal”) Stock mit Blick auf die Gran Via und (in der Ferne) zum Tibidabo erwerben konnte. Daher interessieren mich besonders die Geschichten dieses Hauses. Eine Nachbarin erzählte mir von ihrer Kindheit in der zum Montjuïc ausgerichteten hinteren 4-Zimmer-Wohnung, die sie als 4-Jährige bezog. Nach ausgedehnten Auslandsreisen kehrte sie immer gern in ihr Domizil zurück. Nach dem Tod ihrer Eltern ist sie nun selbst schon in ihren 80er Jahren. Hinter vorgehaltener Hand meinte sie, der “Drapaire” habe die Finanzmittel zum Bau des Hauses in einer alten entsorgten Kommode gefunden! In solchen Gerüchten steckt meistens ein wahrer Kern.
Im Stadtarchiv Barcelona bieten die Dokumente über das “Cal Drapaire” Stoff für einen Roman, den es noch zu schreiben gilt!
Dr. Evelyn Patz-Sievers, Februar 2022