Willkommenskultur

Die Erschaffung Adams, Michelangelo ca. 1512
Dossier Anfänge:
Im Laufe der Debatten um Migration und Interkulturalität taucht immer wieder die Forderung nach einer Willkommens- und Anerkennungskultur auf. Natürlich haben sich zahlreiche Institutionen und Forscher*innen mit dem Begriff beschäftigt und ihm immer wieder neue Facetten hinzugefügt, je nachdem, in welcher Situation und von wem er gebraucht wurde und wird. Im entsprechenden Wikipedia-Artikel lässt sich das sehr gut nachverfolgen.
Ich möchte hier einige Bemerkungen aufgrund eigener Beobachtungen anbringen. Als ich vor 32 Jahren neu nach Bayreuth kam, musste ich mich natürlich, wie jeder Neuankömmling, erst einmal orientieren und organisieren, und dabei hatte ich keinerlei Hilfe, weil ich niemanden kannte.
Aber nach einigen Tagen erhielt ich eine schöne Karte von einem mir unbekannten Mann, mit freundlichen und verständnisvollen Worten sowie der Einladung, mich an ihn zu wenden, wenn ich Hilfe bräuchte. So kam ich in Kontakt mit dem Diakon der für meine Adresse zuständigen Kirchengemeinde. Ich brauchte seine materielle Hilfe zwar nicht, aber der Kontakt mit ihm und seine freundlichen Worte sowie sein fröhliches Wesen ermutigten mich sehr, in meiner neuen Umgebung Fuß zu fassen.
Ganz anders das Verhalten der Hausbewohner*innen. Kein freundliches Wort, keine persönliche Frage, schon gar nicht, ob ich Hilfe bräuchte oder mal zum Kaffee kommen wollte. Im Laufe der zwölf Jahre, die ich in diesem Miethaus wohnte, gab es allenfalls Beschwerden über das Verhalten meiner kleinen Tochter oder über mein schief geparktes Auto. Eine einzige Ausnahme gab es: Eine eben in Rente gegangene Logopädin, die Zuneigung zu meiner Tochter fasste und für sie eine Art Ersatzoma und für mich eine große Hilfe bei der Betreuung des Kindes wurde. Ein Glücksfall!
Nach dem Umzug in eine kleine Reihenhaussiedlung waren die Kontakte zu den Nachbarn und Nachbarinnen etwas enger, weil wir uns in ähnlichen Lebenssituationen befanden, gut situiert und mit schulpflichtigen Kindern. Eine Familie fiel mir dabei positiv auf, weil sie im ersten Sommer zu einem Fest einluden, mit einer Flasche Rosé-Sekt, den man auch dann trinken sollte, wenn man nicht kommen konnte. Gleichzeitig war er als Entschuldigung gedacht, falls es ein bisschen lauter werden sollte.
Von anderen Nachbarn gab es indes nicht einmal einen Gruß, geschweige denn ein persönliches Gespräch. Und das bei nur neun Familien und in 20 Jahren! Als ich im Dezember 2024 nicht mehr verheimlichen konnte, dass mein Umzug in eine andere Stadt unmittelbar bevorstand, schrieb ich allen Familien Weihnachtsgrüße, ergänzt um die Nachricht von meinem Auszug. Ich bat für die entstehenden Unannehmlichkeiten um Verständnis und nannte ihnen den für den Verkauf des Hauses zuständigen Fachmann. Zwei Frauen reagierten darauf und bedankten sich für die netten Abschiedsworte. Alle anderen liefen weiterhin sprachlos an mir vorbei. Hilfe bei den umfangreichen Ausräumarbeiten bot niemand an.
Nun bin ich eine “Biodeutsche” und keineswegs eine Ausländerin, aber von Willkommens- oder Abschiedskultur habe ich mir gegenüber in den letzten 32 Jahren wenig gemerkt. Aber ich hatte viel mit Migrant*innen zu tun, die nach Deutschland gekommen waren, weil sie mussten oder wollten, und von denen viele – egal ob Schüler*innen oder Erwachsene – keine*n einzige*n Deutsche*n kannten, auch nicht nach zwei oder drei Jahren.
Alle wünschten sich mehr Kontakt zu den Deutschen, mehr direkte Möglichkeiten, Deutsch zu praktizieren und zu lernen, Antworten auf die vielen Fragen, die in ihrem neuen Leben entstanden waren. Aber der Kontakt, den sie hatten, war oft schwierig: Sie verstanden den Dialekt nicht, kamen mit Duzen und Siezen durcheinander, mussten despektierliche Bemerkungen über ihr Aussehen oder ihre Sprachkenntnisse hinnehmen.
Wichtig wäre mehr praktiziertes Wohlwollen. Natürlich gibt es auch viele Deutsche, die den Migrant*innen gegenüber positiv eingestellt sind. Aber es geht weniger um die Einstellung zu diesen Menschen, die neu in unserem Land sind, als um das Verhalten ihnen gegenüber. Langsamer und deutlicher sprechen, möglicherweise auch mit einfachen Wörtern und Sätzen, freundliche, aufmunternde Gesten und Blicke, mehr Hilfestellung – nicht nur bei Behördengängen -, das wäre in meinen Augen Willkommenskultur. Die ersten Begegnungen sollten Lust auf mehr Kontakt machen, nicht Angst vor noch mehr Frustration.
Es muss doch möglich sein, dass wir auf Anders-Sein, Sprachprobleme und Bedürftigkeit von Migrant*innen anders reagieren als mit Desinteresse, Herabsetzung oder gar Hass.
Von Dr. Katharina Städtler, Februar 2025
Info
https://de.wikipedia.org/wiki/Willkommens-_und_Anerkennungskultur#Entstehung_und_Weiterentwicklung_des_Begriffs
Schlagwörter: Europa, Geschichte, Kultur, Moderne Welt