Allein unter Fremden
Vor einiger Zeit fielen mir Fotos aus der Studentenzeit in die Hand, wo wir mit dem amerikanischen Dozenten des Essay-Kurses irgendwo in trauter Runde
Bei Bier und Wein zusammen saßen. Die Erinnerung an die Namen und an die Gesichter ist inzwischen fast so ebenso verblasst wie das Foto, nur an eine Kommilitonin erinnere ich mich noch besonders gut, weil sie damals einen ausgezeichneten Essay schrieb, in dem sie die damals grassierende Walkman-Manie kritisierte. Der Walkman ist schon lange Geschichte, und würden wir uns heute wieder begegnen und den Essay von damals lesen, würden wir uns wahrscheinlich ausschütten vor Lachen darüber, wie naiv wir damals waren.
Niemand hätte damals auch nur im Traum daran gedacht, dass wir uns irgendwann in einer Welt voller Informations- und Medienjunkies bewegen würden, die eingemauert in ihrer digitalen Isolation meinen, die Welt tagtäglich neu zu erfinden. In meiner Erinnerung an damals sammeln sich Momentaufnahmen aus Bus, Zug und S-Bahn, wo viele Menschen mit Buch, Zeitung und Zeitschrift beschäftigt sind, sich viele angeregt in den verschiedensten Sprachen unterhalten oder einfach nur eingelullt durch das Schaukeln vor sich hin dösen. Im Vergleich dazu hat die Ausschließlichkeit des Digitalen erschreckende Züge angenommen: die Mehrzahl der Fahrgäste ist heutzutage mit dem Mobilteflon beschäftigt und ich bilde mir ein, dass in Verhältnis viel weniger gesprochen wird als früher.
Bereits seit 2006 übersteigt die Zahl der Handys in Deutschland die der Einwohner, und 2015 kamen auf 80 Millionen Einwohner mehr als 110 Millionen Mobiltelefone. Und ähnlich wie unsere Telefone uns zahlenmäßig überholt haben, drohen sie, uns auch im täglichen Leben zu überrollen. Obwohl uns ihre Technologie glauben macht, dass wir damit unsere Zeit besser organisieren können, haben sich die smarten Begleiter wegen Twitter, Whatsapp, Instagram, Facebook etc. pp. mittlerweile zu veritablen Zeitfressern entwickelt, die ständig gefüttert werden wollen. Rein statistisch schaltet jeder Handybenutzer seinen Bildschirm 88-mal am Tag ein, oder in einer Frequenz von 10 Minuten. Die geschätzte Dauer des täglichen Bildschirmglotzens liegt bei zwischen zwei bis drei Stunden insgesamt am Tage, bei Jugendlichen werden nicht selten fünf Stunden erreicht. Bedenklich ist dabei nicht nur die Zeit, die vor dem Bildschirm verbracht wird, sondern auch die Menge dessen, was der ewige Zwang, online zu sein, zu posten, zu twittern, zu agieren oder zu reagieren, zerschneidet, denn Arbeiten und wirkliches Entspannen ist kaum möglich, wenn digital permanent einer an einem herumzerrt. Gespräche werden unmöglich gemacht und/ oder zerstört oder zerschnitten, weil das obligatorische Pling! der Benachrichtigung dem digital Anklopfenden stets Vorfahrt gewährt vor dem, der in Fleisch und Blut vor einem steht. Im Durchschnitt wird alle 18 Minuten eine Tätigkeit unterbrochen, um uns dem Smartphone zuzuwenden. Ein britischer Psychologe , der seit etwa einer Dekade die Auswirkungen von Technisierung auf den modernen Menschen erforscht, fand heraus, dass sich generell das Fortbewegungstempo von Fußgängern um 10% erhöht hat, wobei mittlerweile die Einwohner Singapurs und Guangzhous in China am schnellsten unterwegs sind, während in Bern und Luxemburg die Menschen deutlich entspannter unterwegs sind. Während früher Phasen der Ruhe, Entspannung und des Nichtstun völlig normal waren, scheint der digitale Mensch unter dem Irrglauben zu leiden, dass Zeit nur dann etwas Positives ist, wenn sie gefüllt werden kann und damit gleichzeitig unsere Produktivität steigert. Was sich der Mensch mit den permanenten Bombardements an digitaler Information letztlich psychologisch, soziologisch und kulturell antut, ist hoch umstritten, weil die Forschung erst langsam wieder aufholt. Wo die einen den drohenden „kollektiven digitalen Burnout“ prophezeien (Alexander Markowetz) oder gar den Menschen auf den Weg in die „Digitale Demenz“ (Manfred Spitzer) sehen, wiegeln andere (z.B. Kommunikationspsychologe Markus Appel) ab, weil angeblich noch keine direkten Auswirkung auf sprachliche Kompetenz und Interaktionsverhalten nachgewiesen werden können. Dagegen klingeln bei der renommierten amerikanischen Wissenschaftlerin Sherry Turtle bereits seit geraumer Zeit die Alarmglocken. Die Soziologin, die bereits anfing , am Massachusetts Institute of Technolgy das Verhältnis des Menschen zur Technologie zu studieren, als wir noch im Essaykurs saßen, sieht den Menschen jetzt an dem Punkt ankommen, wo er zwei Fähigkeiten verlieren könnte, die ihn gegen über andere Lebewesen so einzigartig machen: komplexe soziale Empathie und die Fähigkeit zu zwischenmenschlicher Kommunikation. Rainer Lorson
Zur weiteren Lektüre empfehlen wir Manfred Spitzer „Digitale Demenz“, Alexander Markowetz „Digitaler Burnout“ sowie Sherry Turkle „Verloren unter 100 Freunden“ bzw. auf Englisch „Reclaiming Conversation“, die wir Ihnen bei COLIBRÍ gerne zum TASCHENSPIEGEL Vorzugspreis bestellen.
von Rainer Lorson