Mit der Stimme des Herzens
Chronologie eines Interviews mit Hanna Schygulla
Im Rahmen der von der Filmoteca von Katalonien und dem Goethe-Institut organisierten Filmreihe „Hanna Schygulla – Film und Stimme“ war die außergewöhnliche Künstlerin und Sängerin im September einige Tage in Barcelona, um ihre Filme und eigene Videos vorzustellen und ein einzigartiges Konzert zu geben.
Wir vom Taschenspiegel erhielten eine Einladung zu einem Empfang zu ihren Ehren, den Judith Maiworm, Leiterin des Goethe-Instituts, in ihrem Domizil für die Welt von Kunst, Kino, Politik und Wirtschaft organisiert hatte. Natürlich wollte ich mir diese Chance nicht entgehen lassen und bereitete mich ausgiebig auf ein eventuelles Interview oder zumindest Gespräch vor. Diese internationale Ausnahmekünstlerin, die mit allen wichtigen internationalen Regisseuren drehte, muss man nicht vorstellen, man muss allerdings schon auf ihrer Höhe sein. Immer mit dem Hintergedanken Lesestoff für unsere LeserInnen zu redigieren. Eine strahlende, leicht gealterte Lilli Marlene trat in fließender Seidenrobe und Kopfputz auf die romantisch ausgeleuchtete Dachterrasse. Schnell sammelten sich ihre Fans bei der Sitzecke, in der sie Platz genommen hatte und von wo aus sie für ihren Weißwein lachend um ein „hielito“ mit ihrer weichen Stimme bat. Bei solchen Veranstaltungen haben wir immer einen Feind: die Zeit. Wie auch der deutsche Generalkonsul Rainer Eberle oder die Schriftstellerin Jagoda Marinic wollte jeder sie begrüßen und ein paar Worte wechseln. Sie überraschte die Anwesenden durch ein absolut flüssiges Spanisch mit leichtem kubanischem Einschlag. Wer hätte das gedacht?! Aber es konnten nicht viel mehr als ein paar Ideen zu ihrem Werk ausgetauscht werden. Interessiert war sie an Katalonien und lernte ein paar Begrüßungsworte auf Katalanisch. Hanna Schygulla hatte jedoch wenig Zeit. Sie zog sich bald zurück, um für die anstehenden Events fit zu sein. Ich hatte keine Frage stellen können.
Aber am nächsten Tag war ich wieder da. Ihre Pressekonferenz zum Konzert fand in der Filmoteca im Born statt, deren Leiter Esteve Rimbaud zum ersten Mal – auf Wunsch von Hanna Schygulla – in der Filmoteca ein Konzert organisierte. Das Fotoshooting fand in der nüchternen Eingangshalle statt. Und wieder war die Zeit unser Feind, denn jeder Journalist durfte nur eine Frage stellen, dann war es schon wieder Zeit zum Aufbruch. Ich nahm also meinen ganzen Mut zusammen und bat im Namen des Taschenspiegels als Erste um das Mikrofon:
Hanna Schygulla, wenn Sie heute Kriege, Flüchtlinge, Korruption, Umweltprobleme, den Aufschwung der Populisten sehen, haben Sie nicht große Lust selbst Filme zu drehen?
Sie lacht, überlegt kurz und legt los: Ich bin Videomacherin, nicht Regisseurin. Ich werde bald mit der Dokumentarfilmerin Christa Graf in diesem Bereich zusammenarbeiten, die kürzlich eine Dokumentation über Aids in Afrika gemacht hat, die sogenannten „Memory Books“. Sie sollen eine Antwort auf die großen Fragen geben, die uns momentan überfallen. Es geht darum, für Kinder eine kulturelle und soziale Identität zu schaffen, die ihnen durch den Verlust ihrer Eltern abhandengekommen ist. Woran erinnern sie sich noch, was ist die Kultur ihrer Familie, was sind ihre Träume. Graf gibt daneben praktische und pragmatische Tipps zur Selbstfindung. Da ich selbst Tochter von Flüchtlingen bin, bin ich sehr an diesen Themen interessiert. Wie lässt sich aus einer Situation, die zunächst schwer und fast aussichtslos erscheint, etwas Sinnvolles machen?!?!
Ich wurde als Polen-Mädchen in München beschimpft, verstand aber nicht einmal, was das bedeutete. Mir hat es als junger Mensch viel Spaß gemacht, so wie die anderen zu sein, aber eben immer auch eine ganz andere. Dieser Zweispalt hat meine Phantasie beflügelt. Ich machte deshalb kleine Videos, die meine Träume widerspiegelten. Ein Traum ist etwas sehr Geheimes. Wir sind gewagte Dichter im Traum. Meine Videos sind eine Art Memory Book meiner frühen Biographie und der ersten Kontakte mit der Welt. In meinen Videos ist die Rede von Umwelt und Konfrontationen von Kulturen, deren Probleme oft wesentlich größer sind, als man zu Beginn meint. Aber man muss eine Schwierigkeit in etwas Positives, einen Reichtum drehen. Je schwieriger eine Aufgabe ist, desto weniger langweilt man sich. Ich kann dieser Welt mit ihren Albträumen keine Rezepte geben. Aber diese aktuelle Welt hat etwas von einer Utopie, denn niemals war es so einfach, Künstler zu werden. Alles hat zwei Seiten. Sie lacht.
Und schon kommt eine Frage, die ich auch gern gestellt hätte:
Sie haben das Kino damals sehr intensiv gelebt. Wie ist Ihre aktuelle Beziehung zum Film? Sind wir heute nicht etwas verschlafen und müssen das Kino erneut aufwecken, wie sie es getan haben?
Ah. Wie leben in einer anderen Epoche. Wir waren damals in einer kulturellen Revolution, die inspiriert war von einer Vision vom Ende des Kapitalismus. Wir hatten Angst vor einer Katastrophe, wo die Menschen ihre menschlichen Werte verlieren werden. Und jetzt sind wir voll drin. Wir tun momentan sehr viel um die Alarmzeichen nicht sehen zu müssen. Klar müssen wir aufwachen, am besten durch eine Mischung aus Amüsement und Alarm zugleich. Zum Beispiel kommt gerade der deutsche Film „Toni Erdman“ von Maren Ade in die Kinos, der die Angst eines Vaters um seine Tochter zum Ausdruck bringt, die ihre Seele sozusagen in ihrem Unternehmen verkauft, um auf der Erfolgsleiter nach oben zu klettern. Der Film ist sehr komisch, weil er mit vielen gesellschaftlichen Tabus bricht und uns durch das Lachen zum Nachdenken bringt. Das gefällt mir.
Ich lamentiere und gleichzeitig ist es mir egal, alle lachen, denn wenn ich weiter lamentiere, werde ich unglücklich, aber ich bin nicht unglücklich darüber, heute nicht voll am Kinoleben teilzunehmen. Ich weiß, dass ich bald etwas sehr Interessantes bekommen werde, in das ich all das legen kann, was mich zu einer Überlebenden vieler Versuchungen macht. Ich halte weiter an dem fest, was ich die Stimme des Herzen nenne. Das klingt romantisch, aber es gehört zu meinem Innersten. Es ist Zufriedenheit.
Auch meine Frage zu einem gewissen Karriereknick wurde gestellt.
In einem Interview erklärten Sie, dass das Kino Sie verlassen hätte. Ist das noch so?
Dass das Kino mich verlassen hat? Das hatte einen Grund. Als ich auf dem Höhepunkt meiner Karriere war – auch wenn ich diesen technischen Ausdruck wenig liebe – , entschied ich mich meiner inneren Stimme folgend, meine Eltern zu pflegen. Ich wusste damals noch nicht, dass ich fast 20 Jahre lang nur die Hälfte meiner Zeit meinem Beruf widmen konnte. Nach Fassbinders Tod war ich voll im europäischen Kino etabliert. Einen poetischen Regisseur wie Marco Ferreri zu treffen war ein großer Segen und Anspruch. Die jüngeren Regisseure dagegen haben ihre eigenen Gesichter. Ich habe nie mein Gesicht verändert, keine Falte verschleiert. Mich interessieren die neuen Kriterien einer Menschlichkeit. Für eine neue Morgendämmerung braucht man sie. Es wird aber schwierig werden, weil die Macht des Geldes sehr groß ist. Ich fühle mich heute noch mit dem Kino verbunden. Natürlich denke ich auch manchmal, dass die Sachen früher besser waren, sie lacht, aber ich will nicht in eine Nostalgie verfallen, die nicht kreativ ist, denn eigentlich sehe ich mich fortschrittlich. Mich interessiert alles, was dem Wunsch nach Wandel nahekommt.
Ich bin mir bewusst, dass gerade hier in Katalonien es immer bedeutende Fortschritte in der Kunst gegeben hat. Hier lebt man in einem weniger großen Chaos als in anderen Teilen der Welt, in denen man Spanisch spricht. Hier funktioniert es besser. Es gibt einen guten Gemeinschaftssinn, weil Sie etwas verteidigen, das Ihnen gehört.
Hanna Schygulla bittet um eine weitere Frage.
Was halten Sie von der Rolle der Frau in der Kunst? Man hat sie als Muse bezeichnet. Glauben Sie, dass Künstlerinnen jemals eine männliche Muse zu ihrer Inspiration haben werden?
Was soll ich Ihnen antworten, ohne zu lamentieren, sie lacht seufzend. Mein größter Wunsch im Leben war Mutter zu sein. Das hat das Leben mir verweigert. Deshalb bin ich eine Mutter in anderen Dimensionen. Die erste Liebe ist die zwischen Mutter und Kind. Das ist wie eine Quelle, ein Reservoir. Es gibt natürlich auch negative Beispiele von Besitz ergreifenden Müttern. Ich profitiere immer von den Kindern, die ich beobachte, um mich zu regenerieren. Kinder verfügen über die ganze Bandbreite: ein Shakespeares, ein Komiker, der Absurde. Sie sind so authentisch. Ich bewahre mir sorgfältig diese kindliche Seite: das Vergnügen wie ein Kind spielen. So waren meine ersten Schritte im Video, im Theater. Fassbinder hatte diese Vision mit mir Filme zu realisieren.
Am Folgetag auf dem Kolloquium: Esteve Rimbaud bittet Hanna Schygulla von ihrer Arbeit der biografischen Videos zu sprechen.
Ich bin eher eine Videomacherin als eine Regisseurin. Das ist keine Arbeit, das ist ein Vergnügen. Es ist etwas ganz Persönliches, wie alles, was ich mache. Kluge, intelligente Sachen können alle machen, die gehen im einen Ohr rein und im anderen wieder raus. Meins ist erlebt oder besser gesagt geträumt. Die Kraft Dinge zu träumen, bereitet die Wirklichkeit vor, sie zu leben. Nicht immer realisieren sich Träume. Der Zufall kam mir als Künstlerin oft zu Hilfe. Der Zufall, wie Borges ihn nannte: Er ist Teil dieser Schrift, die man nicht entschlüsseln kann. Als ich das erste Mal eine Videokamera in der Hand hielt, war das ein tolles Vergnügen für mich, weil mir niemand sagte, was ich wie zu machen hatte. Und ich setzte Nachtträume um. Denn jeder, der nachts träumt, wird zu einem Dichter, oft einem sehr gewagten. Mit surrealistischen Bildern, die als Metaphern stehen. Ich habe sie immer – welcher Blödsinn, „immer“, sie lacht erneut, „immer“ das Wort sollte niemand im Leben sagen, das hört sich blöd an – , also häufig aufgeschrieben, weil sie sich sonst auflösen.
Ich fing mit den Videos an, weil das große Gemeinschaftsprojekt einen Roman zu verfilmen mit Fassbinder, wo wir partnerschaftlich zum ersten Mal arbeiten wollten, in die Brüche ging, weil sein Freund verstarb, was alles änderte. Diese Enttäuschung musste ich verarbeiten. Ich lebte mit anderen Künstlern zusammen, und ein Fotograf riet mir, Videos zu drehen. Es war wie ein Fieber. Das Material habe ich erst anlässlich einer Retrospektive im Moma in New York bearbeitet.
Viele Fragen bleiben an diesen Abenden offen. Filme, Gesang und Videos sprechen für sich. Das Video der Spiegelung eines Orang-Utans und eines Wissenschaftlers in einem Zoo, nur durch eine Glasscheibe getrennt, versinnbildlicht wohl, dass wir oft dem Anderen nur bedingt nahe kommen, so sehr wir auch lamentieren mögen.
Von Ina Laiadhi, September 2016
Schlagwörter: Frauen, Kultur