Dossier Inseln: Inseln in der Literatur
Unentdeckte Inseln gibt es kaum noch. Inseln haben jedoch in unserer Vorstellungskraft nichts von ihrer Faszination eingebüßt. Vom Festland abgetrennt – oftmals als Archipel und verloren im weiten Meer – bieten sie einen Ort der Rettung und der Zuflucht. Sie sind Inbegriff der Einsamkeit, der Sehnsucht, ein magischer Schauplatz für verborgene Schätze, Geheimnisse und Verbrechen. Inseln sind abgeschirmte Orte der Prüfung, der Erkenntnis, der Wandlung und der Bewährung.
Inseln sind in der Antike mit der griechischen Insel- und Gedankenwelt verknüpft. Sagenhafte Geschichten ranken sich um Elysium, Avalon, Utopia oder Atlantis. Der griechische Philosoph Platon berichtet vom versunkenen Inselreich Atlantis, dessen Existenz noch heute erforscht und nie geklärt wurde. Im Epos Odyssee schildert Homer im 8. Jh. v. Chr. die Heimkehr des Königs von Ithaka aus dem Trojanischen Krieg. Auf seinen Irrfahrten ist Odysseus todbringenden Verlockungen ausgesetzt und kehrt nach jahrelangen Abenteuern als unerkannter Bettler in sein Heimatreich zurück. Eine Odyssee gilt seither als Synonym für menschliche Irrfahrten.
Das Inselmotiv lässt sich aus der Weltliteratur nicht fortdenken und ist in unerschöpflicher Vielfalt präsent in Mythen, Dichtung, utopischen Erzählungen und Reisebeschreibungen. Einige markante Beispiele machten Geschichte.
Der englische Lordkanzler Thomas Morus (1478-1535) unter Heinrich VIII verfasste die lateinische Schrift Utopía und prägte die Bedeutung des Wortes „Utopie“. Im erfundenen Bericht eines Seefahrers regiert auf der Insel Utopia jenseits des Äquators ein ideales Staatswesen eine neue ideale Gesellschaft. Diese frühsozialistische Idee beschäftigt Philosophen und Schriftsteller bis heute.
Weltliteratur schrieb Daniel Defoe 1719 mit seinem Roman The life and strange surprising adventures of Robinson Crusoe. Der Schiffsbrüchige Robinson, wandelt sich – gestählt durch seinen harten Überlebenskampf auf einer unbewohnten Südseeinsel – vom Weltenbummler zum tatkräftigen Individuum und reiht sich nach seiner Rückkehr nahtlos in die englische Gesellschaft ein. Die „einsame Insel“ ist unauflöslich mit dem Helden verbunden und begründete eine Menge von Nachfolgebüchern, welche die Isolation eines Individuums/ einer Gruppe und die menschliche Urangst literarisch gestalten.
Abgesehen davon, dass eine entfernte Insel ein politischer Verbannungsort bis zum Tod des Individuums sein kann – Napoleon nach seinem Sturz auf St. Helena, Maréchal Pétain auf der Île d’Yeu – gelten Inseln als Sehnsuchtsort, auf denen Heilung oder Neuorientierung gesucht wird, wie im Fall Frédéric Chopin und George Sand. Zur Erholung verlebt das Paar 1838 die Wintermonate auf der Baleareninsel Mallorca im abgeschiedenen Kloster Valldemosa. In Un hiver à Mallorque gibt die Schriftstellerin ein stimmungsvolles privates, gesellschaftliches und landschaftliches Porträt des Insellebens.
Robert Louis Stevensons Roman Treasure Island (1883 Die Schatzinsel) erzählt vom Jungen Jim, der mit seinen Begleitern bei der Suche nach einem mysteriösen Schatz auf einer wilden Insel von seefahrenden Piraten verfolgt wird. Das Buch wurde weltberühmt und mehrfach verfilmt.
William Goldings Buch Lord of the Flies (Herr der Fliegen, 1954) konnte ich nicht zu Ende lesen. Hierin kämpft eine Gruppe von 6-12 jährigen Jungen nach einem Flugzeugabsturz auf einer Insel ums Überleben und zerfällt in zwei verfeindete Lager. Diese blutrünstige Inselgeschichte hinterlässt eine beklemmende Sicht auf die menschliche Existenz.
Inseln werden auch in der deutschsprachigen Literatur über Jahrhunderte thematisiert. Im mittelalterlichen Heldenepos Nibelungenlied geht die Seefahrt zur Insel Isenstein (Island) in Brunhilds Königreich. Goethes Iphigenie auf Tauris (1787) betont die Humanität gegenüber barbarischen Gebräuchen in der griechischen Insel- und Götterwelt. Während seiner sensationellen Weltumseglung auf einem russischen Forschungsschiff berichtet Adelbert von Chamisso 1836 in seiner Reise um die Welt von seinen Naturforschungen vor der Küste Alaskas. Die d ort gelegene Chamisso-Insel trägt seinen Namen. Theodor Storm erzählt 1871 auf einer Schiffsfahrt zu der Halliginsel Süderoog in Eine Halligfahrt vom Untergang der Stadt Rungholt. Der Reiseroman Elizabeth auf Rügen von Elizabeth von Arnim (1909) enthält bezaubernde Naturbeschreibungen und amüsante Erlebnisse auf Deutschlands größter Insel. Hiddensee – in Form eines Seepferdchens der Insel Rügen vorgelagert – ist Schauplatz von Konflikten der Saisonarbeiter und Verschollenen auf der Flucht über die Ostsee in Lutz Seilers Roman Kusko (2014). Auch die Nordseeinsel Sylt ist mit literarischen Lobliedern bedacht, wie in Werner Irons Buch Sylt literarisch, (2021) nachzulesen ist.
Unter dem Motto „Das schöne Stückwerk im Meer“ – Inseln als literarischer und kultureller Raum fand vom 6.-8. Oktober 2021 der XVI Internationale Kongress der Goethe-Gesellschaft in Spanien in Palma de Mallorca statt. Die höchst interessanten Vorträge sind in einem Konferenzband veröffentlicht. Ein Beweis dafür, dass sich Inseln in der Literatur unendlich fortschreiben lassen.
Von Dr.phil. Evelyn Patz Sievers, MAi 2024
Schlagwörter: Geschichte, Kultur, Literatur, Sehenswert