Editorial 164: Und wenn wir mal die Bräuche änderten?!
Während ich dieses Jahr an den Bücherständen am Tag von Sant Jordi in Barcelona vorbeischlenderte, waren der ganze Trubel und das Gedränge wieder eine Show. Eine einzigartige Begegnung von Schreibenden und Lesenden in ganz Katalonien. Junge und nicht so junge Leute stehen in langen Schlangen an, um sich ein Buch von ihrer Lieblingsautorin oder -autor signieren zu lassen. An manchen Ständen kommen Besucher und Besucherinnen kaum bis in die erste Reihe, um nur mal ein Buch in der Hand zu halten. Gesprächsfetzen flattern durch die Luft: „Hast du das schon gelesen?“ „Das kann ich nur empfehlen.“ „Leider schon vergriffen.“ Eine eher kleine, aber alteingesessene Buchhandlung wie Fabre hat gleichzeitig zehn Verkäufer und Verkäuferinnen am Start. Mit all den Rosenständen dazwischen ist schwer abzuschätzen, ob mehr Rosen oder mehr Bücher an diesem Tag verkauft werden. Es sind auf jeden Fall Unmengen. Wenn wir der Tradition folgen wollen, dann schenken die Männer ihren Frauen eine Rose als Zeichen der Liebe. Und die Frauen schenken den Männern ein Buch. Zumindest seit 1929, wo der Brauch durch eine Initiative der Buchhändler hier seinen Lauf nahm. Frauen schenken also ihren Männern ein Buch, damit sie gutes Lesefutter haben. Eine doch recht großzügige Geste, um den Partner intellektuell mitzuziehen. Könnten wir das nicht mal aufbrechen? Dann bekämen auch Frauen ein gut ausgewähltes Buch. Ein Jahr so, ein Jahr anders-herum. Damit kämen wir auch beim Lesestoff der Gleichberechtigung ein Stück näher.
Als ich gerade dabei war, diese Ausgabe des Taschenspiegels und das Editorial vorzubereiten, habe ich mit großer Trauer vom Tod eines sehr großen Autors erfahren. Paul Auster, der gerade in den Himmel der Bücher eingezogen ist, sagte über das Lesen: „Lesen war meine Freiheit und mein Trost, mein Trostpflaster, mein liebstes Stimulans: Lesen für das reine Vergnügen des Lesens, für diese schöne Ruhe, die einen umgibt, wenn man die Worte eines Autors in seinem Kopf widerhallen hört.“ Im Namen der Redaktion schicken wir ihm dorthin, wo er jetzt ist, ein Buch.
Von Ina Laiadhi, Chefredakteurin, Mai 2024
Schlagwörter: Barcelona, Katalonien, Kultur, Literatur