Lesetipp: Das Gemeindekind
Mit Verstand statt Vorurteil
Manchmal tut es gut, auch mal wieder etwas Klassisches in die Hand zu nehmen. Die Moderne liegt zwar eigentlich immer vor uns, aber öfters müssen wir feststellen, dass die Moderne in der Vergangenheit auch schon Erstaunliches hervorgebracht hat.
So die österreichische Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach (1830–1916). Die adelige Autorin erlangte Bekanntheit durch ihre Aphorismen und psychologischen Erzählungen mit gesellschaftskritischem Inhalt, verbunden mit manifester Forderung nach Emanzipation. Eine sehr klare Sprache macht das Buch heute sogar als Bettlektüre geeignet. In dem 1887 veröffentlichten Roman Das Gemeindekind spielen die Geschwister Pavel und Milada Holub die Hauptrollen, um deren Unterhalt sich die Dorfgemeinde kümmern muss, weil ihre straffällig gewordenen Eltern zu harten Strafen verurteilt wurden. Ebener-Eschenbach zeigt den Einfluss von Erziehung und Milieu auf die Entwicklung von Jugendlichen und deren Wille bei der Gestaltung ihres Lebens. Nicht jeder Lebensweg wird so geführt, wie er vorgeschrieben scheint. Ein umsichtiger Lehrer ist seine Stütze. Und so kämpft sich Pavel trotz mehrfacher Rückschläge von einem verabscheuten, verwahrlosten Gemeindekind zu einem respektierten Gemeindemitglied durch. Milada bleibt der leuchtende Weg ins Kloster. Ebener-Eschenbach will die landläufige Meinung widerlegen, dass negative Eigenschaften und Verhaltensweisen vererbt würden. Heute wissen wir, dass unsere Persönlichkeit nur zu 30% von unseren Genen bestimmt wird, die übrigen Prozent sind geprägt durch Erziehung, Kultur und die gesellschaftliche Umwelt, in der wir leben. Also beeinflussbar.
Marie von Ebner-Eschenbach übte schon Ende des 19. Jahrhunderts eindeutige Kritik an der gesellschaftlichen Einstellung gegenüber Kindern aus Problemfamilien, den Vorurteilen, die ihnen entgegengebracht werden und ihrer Zurückweisung. Kirche, Adel und Dorfgemeinschaft werden kritisch beleuchtet. Authentisch und detailliert sie schildert die sozialen Umstände, in denen sich ein Charakter entwickelt. Viele sehen in dem Werk große Erzählkunst, verknüpft mit humanitärem Denken und pädagogischer Absicht der Dichterin. Der Roman wird zur Epoche des Spätrealismus gerechnet.
Von Ina Laiadhi, Mai 2024
Schlagwörter: Frauen, Literatur, Moderne Welt