Kulturarbeit ist Friedensarbeit
Interview mit Ronald Grätz, Direktor des Goethe-Instituts Barcelona seit Oktober 2021
Ich treffe Ronald Grätz im Goethe Insti-tut, der nach der Pandemie das Publi-kum einlädt, wieder an den vielfältigen Präsenzveranstaltungen teilzunehmen.
Die Welt hat mit Covid schwierige Jahre erlebt. Welche Folgen hat das Goethe-Institut erlitten?
Das größte „Leiden“ des Goethe-Instituts hier ist, glaube ich, die erforderliche Um-stellung des Lehrbereichs mit einem Rück-gang an Sprachkursteilnehmern. Das tut uns weh, obwohl wir es durch On-line-Kurse aufgefangen haben. Aber insgesamt hat die Corona-Krise nicht nur einen Digitalisie-rungsschub mit sich gebracht, sondern auch einen Verunsicherungsschub. Die Menschen wissen nicht, was in Zukunft wird.
Das Zweite, worunter wir leiden – oder zumindest litten, ist die Tatsache, dass ein wichtiges Moment unserer Kulturarbeit nicht mehr möglich war, nämlich dass Menschen sich begegnen. Wir leben von Begegnung. Es geht darum, was Begegnun-gen mit Menschen machen: Vertrauen bilden. Kulturdialog braucht Präsenz. Mit einer Kachel oder den Menschen, die darauf zu sehen sind, kann man kein Freund-schaftsverhältnis entwickeln. Die Informati-onsvermittlungs-ebene funktioniert. Aber letztlich entwickelt sich aus diesen Dingen sehr wenig. Unser Motto ist: nicht nur Pro-jekte machen, sondern aus Projekten etwas machen. Das ist virtuell extrem schwierig. Es ergibt sich aus den Dingen nicht so viel.
Glauben Sie, dass das Kulturvirus stärker ist als das Covid-Virus?
Er lacht. Schöne Frage. Selbstverständlich. Ich glaube an die „Allmacht“ von Kultur. Kulturelle Kräfte sind das Entscheidende, was Gesellschaften zusammenhält, was Frieden stiftet. Kulturarbeit ist letztlich Friedensarbeit. Es gibt nichts Wichtigeres als Frieden. Wir Menschen brauchen Kultur – kulturelle Teilhabe und kreativen Aus-tausch. Das muss nicht unbedingt nur künst-lerisch sein. Das Bedürfnis wird stärker werden, weil Kultur eine Seelennotwendig-keit ist. Partizipation, kreativer Ausdruck, kulturelles Gemeinschaftserlebnis – wir können wahrscheinlich alle Momente in unserer Biographie benennen, wo uns ein Bild, ein Musikstück oder Bücher wahnsin-nig beeindruckt, umgehauen oder zu Tränen bewegt haben. Da merken wir, welchen Einfluss Kultur auf uns hat: all das, was uns in unserer Persönlichkeit formt. Ich wünsch-te mir, dass Kultur noch mehr bewirken könnte, dass wir ihr noch mehr Räume geben. Das ist Aufgabe des Goethe-Instituts, diese Plattform zu schaffen, in der Kultur ihre friedensstiftende Wirkung entfaltet.
Beim diesjährigen Sant Jordi-Fest konnte man einen großen Durst nach Kultur fest-stellen. Ist das Goethe-Institut bereit, da-rauf zu reagieren?
Ja. Es war für mich positiv überraschend, wie viele junge Leute mit Büchern in der Hand Schlange standen, um sie signieren zu lassen. Mit dem I-pad geht das nicht. Er lacht. Das zeigt zum einen den Durst und zum anderen auch die Kraft von kultureller Tradition. Eine Conseillera sagte mir mor-gens: Es wäre so toll, wenn auf der Welt mehr Bücher und Rosen verschenkt würden. Das ist friedensstiftend. Ich fand auch irre, dass bei den 8 Millionen Katalaninnen und Katalanen an diesem Tag prognostiziert zwei Millionen Bücher verkauft wurden. Wir tun alles, um diesen Ort Goethe-Institut nach Corona wieder als kulturelle Heimat und Begegnungsstätte zu gestalten. Wir arbeiten dabei mit sehr vielen Organisatio-nen in Barcelona und Katalonien zusam-men, um bei ihnen gemeinsam Projekte zu realisieren – auch mit experimentellen Orten. Wir arbeiten mit Streetart-Künstlerinnen und -Künstlern zusammen und mit Tape That, einer deutschen Street Art-Gruppe aus Berlin. Es nennt sich tape art – sozusagen Graffiti mit anderen Mitteln – mit Klebebändern. So erschließen wir uns neue Gruppen an Menschen, die sich damit auseinandersetzen, die diese Sprache der Kunst in Workshops kennenlernen. Wir wissen, dass wir dahin gehen müssen, wo die Menschen sind.
Welche Projekte gibt es in Barcelona?
Das bereits erwähnte Streetart-Projekt. Es geht um Kunst im Öffentlichen Raum. Wir werden mit Tape That eine Art Convention nach Barcelona holen. Tape Art Künstler dieser Welt kommen nach Barcelona, um Workshops zu geben, Wände künstlerisch zu gestalten und zu diskutieren.
Wir werden weiterhin Europa als Schwer-punktthema haben. Wir veranstalten drei Diskussionen dazu:
Die erste zur Bedeutung der Regionen in Europa. Das ist relevant für Katalonien wie für den föderalen Staat Deutschland, wenn man an die „vier Motoren“ denkt, die ein Netzwerk von Regionen bilden.
Als Zweites nehmen wir uns der Bedeutung von Städten und Städtenetzwerken an. Städte sind Hauptakteure des kulturellen Austauschs.
Die dritte Diskussion wird sich um Kultur und Krise drehen. Was kann Kultur in Kri-sensituationen leisten, wie es ein Krieg ist? Denn die Krise bleibt bestehen, auch wenn nicht mehr geschossen wird. Krisen sind ebenfalls die Klimaentwicklung und die zunehmende Flucht und Migration auf der Welt.
Wir werden darüber hinaus eine Diskussion führen zum Museum des 21. Jahrhunderts. Was ist die Aufgabe von Museen? Sie ver-ändert sich und wird hochkomplex – wohin geht die Reise?
In Katalonien sind viele Museen sehr pädagogisch aufgebaut.
Museen stehen für kulturelle Bildung, kulturelles Erbe, Archivierung, Dokumentation, auch für Wissenschaft und Forschung. Mu-seen sind Unterhaltungsinstitutionen und Diskursorte. Ein Museum ist damit einer der wichtigsten Orte zur Sicherung von Demo-kratie.
Glauben Sie, dass die Situationen, die wir erlebt haben, unsere Herangehensweise an die Kultur verändert haben?
Künstler machen Kunst. Jemand, der Musik macht, wird weiterhin Musik machen. Je-mand, der tanzt, wird weiterhin tanzen. Die Künstler setzen sich – wenn Sie die Verän-derungen durch Covid meinen – jedoch mehr mit der Digitalisierung auseinander, um zu sehen, welche Möglichkeiten es gibt und wie Digitalisierung fruchtbar werden kann. Das Publikum lernt, digital zu partizipieren. Man muss heute sehr gut in den sozialen Netzwerken unterwegs sein, weil das die Orte sind, an denen viel Aufmerksamkeit generiert wird. Wir Kulturinstitute stehen untereinander in einem Konkurrenzkampf um Aufmerksamkeit.
Wie wichtig sind die Goethe-Institute im internationalen Kontext?
Es gibt ca. 158 Institute in 98 Ländern. Damit sind wir eines der größten kulturellen Netzwerke der Welt, zusammen mit British Council und Institut Français. Das Goethe-Institut ist ein extrem wichtiges Instrument zur Friedenssicherung und Förderung der Demokratie. Das merkt man an der Bedeu-tung, die Goethe-Institute über Generatio-nen hinweg haben. Das Goethe-Institut in Lissabon zum Beispiel, das ich vor vielen Jahren leiten durfte, hat einen Ruf „wie Donnerhall“. Es hat unter Salazar Berthold Brecht-Aufführungen ermöglicht. Die Leute konnten dort hingehen, offiziell verbotene Stücke sehen und diskutieren. Es war ein Ort der Freiheit, auch wenn die Polizei vor dem Gebäude stand. Man hat in Portugal nie vergessen, dass das Goethe-Institut in der Diktatur zur Sicherung der Meinungs-freiheit beigetragen hat.
Wir sind eine Art vorpolitischer Raum für Freiheit. Die Goethe-Institute sind nicht nur in Krisengebieten wichtig, sondern auch in Europa. Wir sehen, dass die Unionsbildung Europas durch das Verhalten der National-staaten erschwert wird. Nationalstaaten betreiben Interessenpolitik. Sie vertreten ihre partikularen Interessen. Darin sehen Staaten ihre Aufgabe. Kultur übernimmt hingegen Verantwortung für Wohlergehen, Verständigung und Verstehen letztlich für Frieden – für ganz Europa. Die Institute in Europa sind wichtig, um postnationalstaat-liche Perspektiven aufzuzeichnen.
Europa lebt im Rhythmus des Krieges von Russland in der Ukraine. Welche Rolle kann das Goethe-Institut spielen?
Wir müssen uns eingestehen, dass wir unsere Grenzen haben. Wir werden weder Konflikte noch Kriege verhindern oder lösen können. Man kann den Krieg nicht durch Tanzen stoppen, wenn man es etwas des-pektierlich sagt. Wir können zwei Dinge tun: Wir können mit kulturellen Mitteln Konflikte transformieren. Wir können Konfliktursa-chen herleiten, weil es oft auch kulturelle Ursachen sind. Identitätsfragen, die z.B. historische Reminiszenzen aufweisen und andere Perspektiven auf Konflikte eröffnen. Nach Kriegen, wenn zumindest keine Ge-walt mehr ausgeübt wird, können wir Kon-flikte bearbeiten, indem wir die Konfliktpar-teien, die ja Konfliktparteien bleiben, zu-sammenführen und gemeinsam die Ursa-chen zu bearbeiten versuchen. Das kann man mit kulturellen Mitteln gut. Ich bin optimistisch und glaube an die Kultur. Viel-leicht gelingt es uns, Menschen dazu zu bringen, anders auf Konflikte zu sehen und zu sagen, dass ein kriegerischer Konflikt kein Problem löst.
In einem Text haben Sie sich gefragt: Wer lernt von wem? Ist das eine Bescheidenheit Ihrerseits oder die Wiedergutmachung einer Ungerechtigkeit anderen gegenüber wegen unserer Besserwisserei?
Er lacht. Nein, Sie können Kulturdialog gar nicht glaubwürdig betreiben, wenn Sie sich selbst nicht auch als Lernenden sehen. Wir betreiben keinen Kulturexport. Mit ist auch nicht wichtig, dass jemand ein unheimlich positives Deutschlandbild hat. Diese Metho-den, die man als Cultural Diplomacy oder Soft Power bezeichnet, sind wenig erfolg-reich. Da bin ich ganz sicher. Oder schwär-men Sie von China, weil China die China-Oper durch die Welt schickt? Nein, Sie sagen, das ist Propaganda – weil es nicht glaubwürdig ist und kein Vertrauen schafft. Wir sagen nicht, wie toll es in Deutschland ist, sondern vermitteln, dass wir auch an uns arbeiten und wir uns „für Euch“ interes-sieren. Wir lernen als Prinzip und fragen: Wollen wir nicht zusammen lernen? Frank Walter Steinmeier sagte: es geht um das Sechs-Augen-Prinzip: mein Blickwinkel, dein Blickwinkel, unser gemeinsamer Blickwin-kel. Wenn wir einen gemeinsamen Blick-winkel erarbeiten, wenn wir ein gemeinsa-mes Verständnis der Dinge haben, dann haben wir Verstehen und Verständigung vorangebracht. Dann sind wir als Partner immer willkommen und gefragt. Das schafft Glaubwürdigkeit, Vertrauen – ja Zuneigung.
Seit seinem Bestehen hatte das Goethe Institut 10 Präsidenten und Präsidentinnen. Prof. Dr. Carola Lentz steht aktuell erst als 2. Frau an der Spitze. Bei den 13 General-sekretären gingen die Frauen leer aus. Sind Sie zufrieden mit dem Platz der Frau?
Nein, natürlich nicht. Ich hatte das absolute Privileg, der persönliche Referent von Jutta Limbach sein zu dürfen, als sie Präsidentin war, und selten habe ich jemand so bein-druckenden erlebt. Ich habe sehr viel von ihr gelernt. Positionen sollten prinzipiell paritä-tisch besetzt sein. Männer und Frauen haben unterschiedliche Arten zu denken, urteilen und handeln anders. Das ergänzt sich gut, da man andere Herangehenswei-sen hat, auch andere Erfahrungen gemacht hat oder mit gleichen Erfahrungen anders umgeht.
Gibt es eine europäische Denktradition? Welche Basis hat sie?
Ja, die gibt es. Ich hätte Schwierigkeiten damit, zu sagen, es gibt eine europäische Kultur. Es gibt Kulturen Europas. Aber es gibt eine gemeinsame Denkweise, die auf dem römischen Recht, der griechischen Philosophie und der Aufklärung basiert. Das sind unsere kulturellen Denktraditionen, auf die wir uns alle berufen und die uns verbin-den. Der Begriff des Individuums, der Wert von Freiheit und Gleichheit als gesellschaft-liche Ziele und Brüderlichkeit, heute sagt man Solidarität. Wir haben nicht zuletzt in Deutschland die organisierte Solidarge-meinschaft. Was sich für eine Gesellschaft daraus als Kultur ergibt, ist sehr unter-schiedlich, mit gleichen Wurzeln. Die Kultu-ren Europas müssen wir in ihrer Vielfalt würdigen. Kulturen sind nicht zwangsläufig identisch mit Staaten. Sie können es sein, müssen es aber nicht. Kulturen sind verdich-tete Kommunikations-räume. Eine Nation dagegen ist ein Raum organisierter Solidari-tät, nach dem französischen Soziologen Marcel Mauss. Meine Landkarte Europas ist eine Landkarte der Kulturen.
Das Goethe Institut wurde nach dem Welt-krieg als Friedensmission gegründet. Was würden Sie heute hinzufügen?
Ich glaube, dass die Narrative nach dem 2. Weltkrieg dazu führten, so eine Konstrukti-on der Außenpolitik zu erfinden wie die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik Deutschlands. Genial übrigens. Das „Nie-wieder-Krieg“ als Narrativ bleibt und über-holt sich historisch auch nicht. Wenn ich dieses Narrativ ergänzen würde, dann wäre es um etwas wie Natur, das Leben als solches zu würdigen. Die Verantwortung dafür zu übernehmen, dass es diesem Pla-neten gut geht. Ich wünschte mir auch ein neues Narrativ der europäischen Union, eine Union der Bürger Europas. Die Einheit in der Vielfalt.
Vielen Dank für das sehr anregende Gespräch, Herr Grätz.
Ina Laiadhi, April 2022
Info: www.goethe.de/ins/es
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