Geschichte einer Impfpionierin
Mary Wortley Montagu
Lady Mary wurde 1689 als ältestes Kind des fünften Earl von Kingston in unermesslichen Reichtum hineingeboren. Wie es damals üblich war, beschränkte sich ihre Schulbildung standesgemäß auf Handarbeiten, Tanzen, Benehmen und ein wenig Französisch. Mary war jedoch sehr an Literatur interessiert, verschlang die Bücher in der Bibliothek ihres Vaters und konnte bereits mit 13 Jahren Ovid im Original lesen. Zudem sprach sie fließend Italienisch, Französisch und Türkisch. Im Jahre 1712 heiratete Mary den Diplo-maten Sir Edward Wortley Montagu.
In dieser Zeit häuften sich die Pocken (Blattern) und machten auch vor dem Adel nicht halt. 1713 starb ein jüngerer Bruder von Mary Wortley an den Pocken und 1715 erkrankte auch sie selbst. Lady Mary, die als große Schönheit galt, kam knapp mit dem Leben davon. Jedoch hinterließ die Krankheit ent
stellende Narben in ihrem Gesicht, schädigte ihre Augen und sie verlor auch ihre Wimpern. Ihren fortan starren Ausdruck bezeichnete man als „Wortley-Blick“. Aus Scham zeigte sie sich fortan nur noch mit einem Schleier.
Im Jahr 1717 begleitete sie ihren Ehemann Edward Wortley Montagu nach Konstantinopel, in die damalige Hauptstadt der Türkei, wo ihr Gatte als Botschafter seinen Dienst antrat. Sie war eine eifrige Briefeschreiberin, und schon bald berichtete sie Freunden in England von einer Methode, mit der man Menschen in der Türkei vor den Pocken schützte, eine Methode, die man Einpflanzen, Aufpropfen oder auch Inokulation, später dann Variolation nannte.
Sie schrieb: „Alte Frauen sammeln gezielt Eiter aus den Pusteln von den mit Pocken Infizierten. Anschließend gehen sie im Stadtviertel herum und öffnen bei den Menschen, die sich vor den Pocken schützen wollen, eine Vene, die mit einer geringen Dosis des ansteckenden Eiters infiziert wird. Als Folge davon erkranken die Menschen zwei bis drei, selten jedoch acht Tage und sind von da an gegen diese Krankheit immun“.
Ihr Ehemann wurde schon ein Jahr später wieder abberufen. Gleich nach ihrer Rückkehr ließ Lady Mary in England ihren dreijährigen Sohn und später auch ihre fünfjährige Tochter inokulieren. Pocken durch Pocken zu kurieren, dieses Verfahren erregte viel Aufsehen und wurde von der Kirche und den meisten Medizinern, die ihre Patienten mit Einläufen, Aderlassen, Kaltwasserkuren und Gebeten behandelten, nicht gutgeheißen.
Dennoch erhielt Lady Mary von Caroline, der Prinzessin von Wales, mit Unterstützung des englischen Königs, die Zustimmung, Experimente an sechs Gefangenen und sechs Waisenkindern durchzuführen, um die Wirksamkeit des Verfahrens nachzuweisen. Schließlich ließ auch Caroline ihre Töchter inokulieren und es wurde entschieden, dass die Kinder des englischen Königshauses inokuliert (gepfropft) werden sollten. So kam es, dass die Pocken-Inokulation Schritt für Schritt in England Fuß fasste.
Lady Mary Montagu war eine kluge, aber auch exzentrische Frau. Sie stand mit der kulturellen und politischen Elite ihres Landes in engem Kontakt und machte sich vor allem als ernstzunehmende Literatin einen Namen. Sie hat eine Vielzahl von Gedichten, Reisebeschreibungen und Prosatexten verfasst. Berühmt sind auch ihre Briefe, die sie mit wichtigen Persönlichkeiten in England wechselte.
1739 verließ sie England und lebte die nächsten 20 Jahre in Frankreich und Italien. Sie verließ Edward Wortley Montagu für eine Affäre mit dem 20 Jahre jüngeren Dichter Francesco Agarotti. Ihr Ehemann unterstützte sie jedoch weiterhin und nach dessen Tod 1761 kehrte sie nach England zurück, wo sie ein Jahr später an Brustkrebs verstarb.
Heute gilt ihr Landsmann Edward Jenner (1749-1823) als Pionier der Impfgeschichte. Jenner war selbst als Kind nach Lady Mary‘s Methode gegen die Pocken geschützt worden. Er war Landarzt und beobachtete, dass jene Menschen nicht mehr an Pocken erkrankten, die sich zuvor mit den harmloseren Kuhpocken angesteckt hatten. Am 14. Mai 1796 impfte er den achtjährigen James Phipps mit dem Pustelsekret einer an Kuhpocken erkrankten Melkerin. Als dem Buben sechs Wochen danach menschliche Pockenviren verabreicht wurden, war er immun dagegen. Jenner nannte sein Verfahren «Vakzination», abgeleitet vom lateinischen Wort «vacca» für Kuh. Daher bezeichnet man noch heute Impfstoffe als Vakzine.
Louis Pasteur nannte Edward Jenner den Entdecker des ersten Impfstoffs. Lady Mary Montagu dagegen ist bis heute hauptsächlich als Literatin bekannt. Ihre Verdienste im Kampf gegen die Pocken sind fast in Vergessenheit geraten.
1733 schrieb Voltaire über sie: „Seit Lady Wortley Montagu, eine Frau von Genie und Willensstärke, ohne falsche Bedenken ihren Sohn hat inokulieren lassen, haben ihr nun schon mindestens zehntausend Kinder das Leben zu verdanken – und viele Mädchen den Erhalt ihrer Schönheit.”
Von Gaby Goetting, Februar 2022
Schlagwörter: Frauen Europa