Wir haben uns entschieden, uns dem Dilemma zu stellen
Interview Thomas Krüger, Leiter der Bundeszentrale für politische Bildung, bpb
An einem heißen Julinachmittag treffe ich Thomas Krüger im Palmengarten-Restaurant des ehrwürdigen Atheneu von Barcelona, wo er am Vortag an einer Diskussion zu Europa teilgenommen hat. S.S. 17
In Ihrem Lebenslauf lesen wir, dass Sie sich für außerordentlich viele Themen engagiert haben. Wie haben Sie die Zeit dafür gefunden.
Zeit findet sich, wenn das Engagement da ist. Für mich war in meiner Biographie der entscheidende Punkt die friedliche Revolution in der ehemaligen DDR. Die hat für mich einen kompletten neuen Kommunikationsraum aufgemacht, mein ganzes Leben verändert und auch mein Engagement freigesetzt, um für verschiedene Themen aktiv zu werden. Das Engagement für Kinderpolitik kommt sehr stark aus den frühen 90er Jahren, als ich Jugendsenator in Berlin war. Da habe ich sehr viel ausprobiert, unkonventionell zu machen: bei Verfahren Kinder und Jugendliche selber zu konsultieren. Die großen Probleme zwischen West- und Ostberlin, den Kindern, die in Heimen untergebracht waren. Allein das Zuhören hat dazu beigetragen, die Probleme wahrzunehmen. Zum Beispiel dass auf Grund von Vorgaben der Regierung das Taschengeld der Ostberliner Kinder in Heimen viel niedriger war als in Westberliner Heimen. Die Anpassung ist durch Diskussion mit Kindern entstanden. Es hat sich keiner in den Weg gestellt, weil man keine Kinder zweier Klassen haben wollte.
So kam eins zum anderen. Für mich hat sich eine politische Karriere eröffnet. Das war ein Stück motiviert durch den Elitenwechsel in der ehemaligen DDR. Es brauchte Leute, die bereit waren, diesen neuen Weg mitzugehen. Das hat mein ganzes Leben verändert.
Sie sind Leiter der Bundeszentrale für politische Bildung, bpb. Was sind Ihre Hauptanliegen?
Für mich ist in der politischen Bildung der entscheidende Punkt, wie man durch diesen Bildungsprozess selber ins politische Handeln kommt. Politische Bildung soll die demokratischen Rechte der einzelnen Menschen sichtbar machen und das Handeln als politisches Wesen unterstützen und befördern. Deshalb muss man sagen, politische Bildung ist kein Privileg für schon politisch Gebildete, sondern es steht erstmal jedem zu. Die Anstrengung, die man da unternehmen muss, ist zu gucken, welches Bildungsformat passt auf welche Zielgruppe. Für mich ist der entscheidende Punkt, Leute ins politische Handeln zu kriegen, die ihre Rechte generieren wollen. Hannah Arendt hat mal gesagt: „Es geht darum, das Recht auf Rechte zu haben.“ Das ist der zentrale Punkt in der Demokratie.
Sie haben von Veröffentlichungen erzählt. Wie sieht Ihr Verlagswesen aus?
Wir haben eine Schriftenreihe, die sehr beliebt ist, weil dort Publikationen erscheinen, die keine Chance auf dem Buchmarkt haben und deshalb Eigenproduktion der Bundeszentrale sind. Das macht etwa 20% aus. Besonders beliebt sind die Länderberichte. Das sind sehr umfängliche, aktuelle Darlegungen zu den jeweiligen Ländern mit allen Facetten. Das sind Projekte, die mehrere Jahre in Anspruch nehmen, bevor sie fertiggestellt sind. Dann gibt es die Sonderausgaben, die wir publizieren. Im Bildungsbereich wissen wir alle, dass es Leute gibt, die kein großes Budget haben, gerade Studentinnen und Studenten fehlt es oft am nötigen Kleingeld, um wichtige Publikationen selber zu erwerben. Deshalb gibt es bei uns pro Jahr ca. 130-150 Publikationen, die wir als Sachbuchlizenzen herstellen.
Die zweite Säule sind Zeitschriften. Wir haben ein Jugendmagazin namens Fluter, das es als Print und online gibt. Das adressiert vor allem bildungsbereite Jugendliche. Die Zeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschichte“ liegt dem Parlament bei. Alle 14 Tage erscheint ein Themenheft zu einem wichtigen aktuellen Thema. Das können auch Weltregionen sein, aktuelle Konflikte oder Vorurteile. Wir haben sogar ein Heft zu „Monstern“ gemacht, politische Monster (er lacht). Es ist eins der beliebtesten Periodika im politikwissenschaftlichen Bereich und das meistzitierte im deutschsprachigen Bereich.
Daneben gibt es die „Information zur politischen Bildung“, mit der ganze Generationen in den Schulen, besonders den Leistungskursen, groß geworden sind. Das sind sehr ausgewogenen Hefte, die die unterschiedlichen Schulmeinungen darstellen, einen Überblick geben. Also ideal für den schulischen Unterricht, bis hinein in das Grundstudium der Geisteswissenschaften. Für diese Periodika haben wir jeweils Redaktionen.
Heute wird allerdings mehr online als print publiziert. Denn junge Leute holen sich die Informationen über Suchmaschinen. Da ist die Bundeszentrale mit über 40.000 Dokumenten auf ihrer Webseite mittlerweile eine der verlässlichsten Quellen, weil wir – ähnlich wie Wikipedia- Überblicke über Themen geben. Mit dem Unterschied, dass bei uns jeder Artikel autorengekennzeichnet ist, das heißt, den wissenschaftlichen Standards entspricht.
Sie sind ein Verfechter der Bürgermedien. Was ist die Rolle von Facebook, Tiktok oder Instagramm? Sollte die EU nicht Geld auf den Tisch legen und ein eigenes Medium kreieren?
So isses. Es gab aus Frankeich eine Initiative, aber sie hat bisher keinen Erfolg gehabt, weil die Geschäftsmodelle der amerikanischen Plattformen sehr monopolistisch und mit sehr viel Geld in den Markt gegangen sind. Und von den Leuten auch akzeptiert werden. Für uns in der Bundeszentrale gibt es zwei Schulmeinungen dazu: auf der einen Seite starke inhaltlich Kritik, auch gerade an diesen Geschäftsmodellen, weil sie eben das Binäre so stark betonen. Schwarz und Weiß. Die Wahrheit liegt aber meist dazwischen. Auf der anderen Seite sind wir uns bewusst, dass wir nur darüber ganz bestimmte Leute erreichen, die in den sozialen Medien unterwegs sind. Würden wir das alles ablehnen, und wir lassen unsere Kritik und unsere Policy bestimmen, wie wir mit diesen Medien umgehen, dann würden wir zynisch sein, weil wir genau von den Zielgruppen, die wir nur da erreichen und die meistens Bildungsbenachteiligte sind, d.h. dass sie nicht an den klassischen, öffentlichen Debatten partizipieren, dann würden wir unserem Auftrag, die gesamte Gesellschaft mit politischer Bildung auszustatten, nicht nachkommen. Wir haben uns deshalb entschieden, uns selbst zu widersprechen. Also uns dem Dilemma zu stellen, das eine tun und das andere nicht lassen. Wir kritisieren weiterhin diese Medien, nutzen sie aber auch, um Leute zu erreichen und mit ihnen auch darüber zu diskutieren. Die Problematik von den Plattformen deutlich zu machen. Meistens sind es ja Geschäftsmodelle, die mit den persönlichen Daten der Menschen umgehen. Das muss man erklären und vermitteln.
Wir müssen die Medienkompetenz stärken.
Genau! Der entscheidende Punkt ist, dass die Menschen bewusst mit Medien umgehen. Solch eine Macht kann man nicht durch Verbote umgehen können, sondern eher durch vernetztes, kluges, reflektiertes Handeln. Politische Bildung kann nicht mehr ohne Medienbildung gedacht werden kann. Und Medienbildung nicht mehr ohne politische Bildung. Wir brauchen die kritische Kompetenz von politischer Bildung, um Medien in ihren Funktionsweisen, Geschäftsmodellen zu durchschauen. Wir brauchen in der politischen Bildung eine Sensibilität, politische Inhalte medial zu mitteln. Beides ist wichtig und miteinander verflochten. Deshalb muss sich die Praxis im Bildungsbereich verändern. Es gibt kein Schulfach „Medien“ in Deutschland, aber es gibt ein Schulfach „Politische Bildung“ oder „Geschichte“ und da müssen diese Fragen von Medienkompetenz viel stärker in die Curricula Einzug halten, um diese Dimension der Verflechtung aufzugreifen.
Was sind die Grundelemente, um eine demokratische Bildung aufzubauen?
Es gibt eine methodische Dimension bei der Beantwortung dieser Frage und eine inhaltliche. Inhaltlich zielt politische Bildung auf Mündigkeit ab. Mündigkeit meint in diesem Fall, dass der Bürger, die Bürgerin eben mit politischer Bildung selber eine Interventionskompetenz in die Politik generiert, das heißt, zum Teil von politischen Prozessen wird. Entscheidungsprozesse, Interventionen, auch die Demonstration gehört dazu. Politisches Handeln als Kategorie starten.
Methodisch versuchen wir mit bestimmten Prinzipien diesem Auftrage nachzukommen, weil der Staat sich nicht verdächtig machen darf, Propaganda oder Agitation zu betreiben. Insofern hat sich die politische Bildung im staatlichen Auftrag seit den 70er Jahren Spielregeln gegeben, die sie bis heute durchgehalten hat.
Der erste Punkt ist das sogenannte Kontroversitätsprinzip: wenn Inhalte in der Demokratie kontrovers diskutiert werden, dann müssen sie auch in der politischen Bildung und im staatlichen Auftrag dargestellt werden.
Der zweite Punkt ist das Überwältigungsverbot: es geht darum, dem Bürger, der Bürgerin eine eigene unvoreingenommene Urteilsbildung zu ermöglichen. Und sie nicht zu überreden oder überwältigen, eine bestimmte Position zu haben, wie es im Ostblock der Fall war, sondern eine individuelle eigene Urteilsbildung zu ermöglichen.
Der dritte Punkt ist die Alltagserfahrung: die Alterssituation der Menschen ist völlig unterschiedlich, es gibt privilegierte und unterprivilegierte Menschen, es gibt Geflüchtete, Leute mit LGTBIQ, es gibt feministische Perspektiven. All diese Perspektiven haben in ihrem Alltagsbezug eine wichtige Bedeutung. Und wenn wir als politische Bildner diese Situationen nicht aufgreifen, dann bilden wir an diesen Klientels vorbei. Sie partizipieren nicht an den ihnen zustehenden Rechten politischer Bildung. Diese Teilhabe muss eröffnet werden. Und damit verknüpft ist genau dieser Handlungsanspruch. Es geht nicht nur darum mehr zu wissen. Es geht darum ins Handeln zu kommen. Ins Handeln zu kommen kann für einen Menschen mit einem Hauptschulabschluss ganz anders aussehen als für einen Menschen mit akademischem Hochschulabschluss. Beides ist legitim. Beides muss Teil der politischen Bildung sein und das meint der dritte Satz der Alltagserfahrung. Darauf zielt die politische Bildung ab.
Mit dem Fall der Mauer hat ein großer Demokratisierungsprozess in den östlichen europäischen Ländern eingesetzt. Die Demokratie hat Einzug gehalten. Sind die Methoden, die damals angewandt worden sind, auch auf Migranten und Migrantinnen aus autoritären Staaten wie Iran, Irak oder Syrien anzuwenden?
Ja, man muss sie entsprechend kreativ variieren, aber im Wesentlichen würde ich sagen ja. Man muss genau gucken, wer kommt eigentlich nach Deutschland. Aus dem Iran sind Ende der 70er Jahre Geflüchtete im Kontext der Iranische Revolution nach Deutschland gekommen. Das sind vor allem sehr gut ausgebildete Menschen, Ärzte, Anwälte, deren Töchter und Söhne heute in der Politik eine Rolle spielen. Omnid Nouripour, mit iransicher Abstammung, ist Vorsitzender der Grünen. Es gibt sehr viele erfolgreiche Menschen wie die hochpräsente Wissenschaftlerin Naika Foroutan, die Leiterin des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung. Das macht deutlich, dass Leute die mit iranischem Background kommen, eine andere Voraussetzung mitbringen als Gastarbeiterfamilien aus Italien oder Anatolien und eher ländlichen Regionen, in denen Bildung immer auch etwas war, das die Reicheren und privilegierteren Leute wahrnehmen, aber man selber nicht. Das braucht mindestens eine Generation länger, um Bildungsaufstiege zu realisieren. Wir beobachten in Deutschland, dass sehr viele der Kindeskinder dann tatsächlich Bildungsaufstiege realisieren, vor allem junge Frauen. In dem Zusammenhang spielt politische Bildung eine große Rolle.
Was Mittel- und Osteuropa betrifft, gibt es noch eine ganz spezielle andere Frage. Wir beobachten, die Rückkehr nationalistischer Positionen und raufen uns manchmal die Haare, was hat das denn eigentlich mit unserem Verständnis von Europa – besonders Westeuropa- zu tun. Man muss damit vorsichtig und sensibel umgehen, weil all diese Länder wie zum Beispiel Polen Tschechien, Ungarn mit dem Sowjetimperium eine Erfahrung gemacht haben, von ihm dominiert zu werden. Und sie erkennen jetzt erst ihre eigenen Traditionen wieder und greifen zu einem nationalen, oder auch nationalistischen Repertoire, um sich der eigenen Geschichte zu vergewissern. Diese Dimension muss man unbedingt berücksichtigen. Denn das hat ja auch zu tun mit Emanzipation gegenüber dem Sowjetimperium oder heute durch Russland gesteuerten Informationssystem. Ich bin vorsichtig bei der Verurteilung nationaler oder nationalistischer Positionen, denn man muss sie aus dem geschichtlichen Kontext heraus interpretieren.
Und wenn man dann nach Polen guckt, findet man auch sehr überraschende Methoden, wie ein ganzes Land diesen plumpen Nationalismus hinter sich lassen kann. Die Polen waren für mich schon zu DDR-Zeiten Europäer, Transtalantiker geradezu. Man lernt sie noch mal ganz anders wertschätzen, weil sie es aus eigener Kraft schaffen, diesen plumpen Nationalismus zu überwinden und sich als Europäer, als liberale Menschen zu positionieren, die in Europa ihre Verantwortung spielen wollen.
Ich finde, dass sich in Mittel- und Osteuropa die Zukunft Europas entscheiden wird. Es ist wichtig, dass die souveränen Erfahrungen Westeuropas mit den Mittel- und Osteuropäern geteilt werden, aber gleichzeitig deren Anstrengung wertschätzt wird, sich als Teil Europas zu verstehen.
Glauben Sie, dass demokratische Werte wie Diversität, Teilhabe, Solidarität in der Gesellschaft fest verankert sind?
Ich glaube, dass demokratische Werte oder auch menschenrechtliche Werte immer prekäre Werte sind. Die muss man sich jeden Tag aufs Neue erarbeiten. Das ist kein Erbgut, das wenn man es einmal für sich entdeckt und wertgeschätzt hat, automatisch auf die nächste Generation übertragen wird. Man muss für die Menschenrechte streiten, für demokratische Werte. Demokratie ist kein Selbstzweck. Es ist keine Veranstaltung, die sich selbst genügt. Man kann Demokratien auch abwählen. Das ist vielleicht die einzige Gesellschaftsform, die sich selbst sozusagen nicht eine Regel gibt sich zu reproduzieren, sondern sich zur Disposition stellt. Wir wissen alle, dass Hitler, die NSDAP per Wahlen an die Macht gekommen sind und danach unmittelbar alle Regeln der Demokratie außer Kraft gesetzt haben. Deshalb ist es so wichtig, zu wissen und jeden Tag auf dem Schirm zu haben, dass man sich für dieses Werte einsetzen muss.
Das hatten wir so nicht auf dem Schirm, dass wir für die Demokratie kämpfen müssen.
Ja, wir wachen spät auf. Aber es gibt Gruppen mit tollen Erfahrungen. Eine der spannendsten ist die NGO: Omas gegen rechts. Das sind die alten Feministinnen der 70er Jahre, die merken, dass es nochmal neue Impulse braucht. Sie haben Kämpfe durchstritten, die ihnen ein Repertoire und eine Kreativität im politischen Widerstand geben, die sie heute nochmal auf die Straße bringen.
Wie erklären Sie dann das Aufkommen der Extremen?
Der entscheidende Punkt ist, dass wir es heute nicht mehr nur mit ideologischen Kämpfen zu tun haben, also zwischen links und rechts, sondern zunehmend kulturelle Konflikte dazu kommen. Menschen, die Angst haben vor Modernisierung und deshalb zurückfallen in essentialistische Positionen. Sie versuchen sich in ihrem unmittelbaren Zusammenhalt zu vergewissern, wo müssen der anderen Gesellschaft Grenzen gesetzt werden. Auf der anderen Seite gibt es die hyperindividualistischen Modernisierungsvertreter – die Grünen sind die Partei, die das am meisten repräsentiert -, die in diesen Kämpfen attackiert werden. Wegen dieses kulturellen Konflikts sind extremistische Positionen im Wachsen begriffen. Leute, die Angst haben, nicht mehr mitzuhalten, die Abstiegsängste haben, die zu Exklusionsmechanismen greifen, also Leute ausschließen, ob es Homosexuelle sind, ob es Frauen sind, Menschen mit Migrationsgeschichte oder Geflüchtete. Die rechtsextreme Gesinnung führt eher dazu, dass Kollektive kreiert werden, die einzelne Mitglieder ausschließen, um sich eines gemeinsamen Kollektivs bewusst zu werden. Das passiert in Radikalisierungsschleifen, weshalb man von Radikalisierungskollektiven sprechen kann, die in modernen Gesellschaften zunehmend Platz nehmen und versuchen, Rechte einzufordern. Deshalb muss man in der politischen Auseinandersetzung robust die Stirn bieten und sagen, hier gibt es etwas zu verteidigen.
Klar ist, dass es diese Haltung in den letzten Jahrzehnten immer schon gab. Nur wenn man die Leute gefragt hat, was haben sie denn gewählt, dann haben sie geantwortet CDU oder SPD, also die klassischen Parteien. Die hatten eine domestizierende Kraft, solche Sachen zu binden und politisch handelbar zu halten. Das ist heute vorbei. Der Charakter der Parteien als Volksparteien ist verschwunden.
Welches Land in Europa kann in der politischen Bildung einen Leuchtturm darstellen?
Länder, die politische Bildung betreiben, machen es richtig. Aber auch in Deutschland können wir nicht sagen, dass durch die politische Bildung alle Probleme verschwinden. Man muss die selbstbeschränkte Wirkung von politischer Bildung sehen. Man kann nichts tun, wenn die Politik schlecht ist. Politische Bildung kann Reflektionsprozesse unterstützen und Menschen in die Lage versetzen, sich selbst ein kritisches Urteil zu bilden. Kann jedoch die Politik nicht direkt verändern. Es gibt in Europa politische Kulturen, die auf sehr unterschiedlichen Wegen Rechte einfordern. In Frankreich ist man viel schneller auf der Straße als in Deutschland, wo man auf der anderen Seite Institutionen wie die Gewerkschaften hat, die einen relativ starken Einfluss haben. In Deutschland kann man sagen, dass der Korporatismus eine sehr große Rolle spielt. Parteien sind koalitionsbereit. Das ist in anderen Kulturen eher nicht so, da ist man sehr stark auf das Obsiegen gegenüber anderen Positionen aus. Da muss man in Europa vielleicht eine Atmosphäre herstellen, zu gucken, was könnte von den Erfahrungen anderen Europäer für die eigene Kultur nützen. Dafür brauchen wir Europa-politische Bildung, die in der Kommission bisher zu klein geschrieben wird. Es wird den Ländern überlassen, ob sie politische Bildung betreiben oder nicht. Man sagt, das ist ein subsidiäres Anliegen der Länder, das selber zu gestalten. Das reicht aus meiner Sicht nicht aus. Die Europäer haben eine Wirtschaftsunion auf den Weg gebracht. Sie haben eine Sicherheitsunion auf den Weg gebracht, aber eine Sozialunion steht eigentlich noch aus. Die Ungleichheiten sind in Europa ungleich verteilt. Durch Bildung kann man ein Bewusstsein dafür schaffen, dass es da Handlungsbedarf gibt.
Europa leidet. Woran leidet es Ihrer Meinung nach?
Es leidet an diesen Ungleichheiten und daran, dass es keine einheitlichen Praktiken gibt, wo es einheitliche Praxen geben sollte. Solidaritäten in Europa herzustellen heißt, Erfahrungen zu teilen. Erfahrungen teilt man am besten, indem Begegnungen hergestellt werden, indem man mitkriegt, wie kann Europa unterstützt werden, wo Unterstützung notwendig ist und wo Politik in die falsche Richtung läuft. Unterm Strich würde ich nicht sagen, dass wir den Kopf in den Sand stecken sollten. Wir haben so viel erreicht in Europa. Dadurch dass Europa institutioneller geworden ist, kann man das Rad der Geschichte auch nicht einfach zurückdrehen. Es gibt wellenartige Bewegungen, die die Situation mal besser und mal schlechter aussehen lassen. Wenn man sich diese Rösselsprünge – ein Schritt zurück, zwei Schritt nach vorn- vor Augen führt, dann sind wir alles in allem auf einem langfristigen guten Weg.
Es bleibt weiter schwer, sich Extreme zu positionieren, weil der Negativity-Bais, der auch gestern Abend angesprochen wurde, weiter attraktiver ist. Lügen ziehen einfach besser, das sagte schon Hannah Arendt.
Genau.
Gibt es einen Freiwilligenaustausch zwischen Deutschland und Spanien (Die Jugend als Schmiede Europas)
Es gibt im Rahmen des freiwilligen sozialen Jahres und des freiwilligen kulturellen Jahres immer auch entsprechende Plätze in anderen europäischen Ländern. Das hilft den jungen Leuten weiter, Sprachen zu lernen, eine neue Kultur und verfügen dann nach einem Jahr über Kompetenzen, die wichtig für die Zukunft sind.
Können wir erwarten, dass die bpb bald von einer Frau geführt wird?
Das ist mein Wunschtraum, denn ich höre in Kürze auf. In meiner Amtszeit ist die Anzahl der Frauen in Führungspositionen stark gewachsen. Vor meiner Zeit gab es keine einzige Frau in Führungsposition, heute ist die Hälfte der Plätze mit Frauen besetzt. Ich hoffe, dass die Ministerin und die Staatssekretärin als meine Nachfolgerin eine richtig gute Frau auswählen.
In Ihrer Rede zum 75.Jahrestag des Grundgesetzes haben Sie gesagt, dass der Weg zur Demokratie sehr lang und beschwerlich ist. Gibt es nicht keinen kurzen Weg?
Ich glaube nicht, weil das Problem von Gesellschaft ist, dass es unterschiedliche Perspektiven und Erfahrungen gibt und die müssen ausgehandelt werden. Man trifft in einer Demokratie naturgemäß immer auf sehr unterschiedliche Positionen. Die Frage ist: Wie gehen wir mit Unterschieden um? Wir brauchen eine Sensibilität dafür, dass das Zusammenleben mit Unterschieden ein viel größerer Gewinn ist, als alles über einen Leisten zu schlagen. Uns ist nicht geholfen, wenn wir alle gleich sind oder uns alle gleich machen, sondern eigentlich eher, wenn wir das Recht haben, unterschiedlich zu sein, unterschiedliche Geschichten und Erfahrungen mitzubringen. Davon profitiert Demokratie und im Übrigen auch die Wirtschaft und die Kultur, weil man aus Unterschieden lernen kann. All die Werte, die wir vor uns hertragen, Toleranz gegenüber unseren Nachbarn, unseren Partnern, unseren Mitstreitern an den Tag zu legen, hat genau damit zu tun, dass es Differenzen gibt, die uns unterschiedlich machen, und das als Wert und nicht als Schaden zu begreifen.
Vielen Dank für das sehr aufschlussreiche Gespräch
Ina Laiadhi, im Juli 2024
Infos
Bundeszentrale für politische Bildung, Berlin
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