Barcelonas legendäres Varietétheater: El Molino
Ein zweites “Moulin Rouge” in Barcelona? Das gibt es tatsächlich. Es wirkt wie eine kleine Kopie des berühmten Boulevard-Theaters in der Pariser Rue Pigalle und steht – ehemals altrosa getönt – heute in unscheinbaren Gelbgrautönen an der rechten Seite der vom Plaça Espanya ausgehenden breiten Avinguda del Paral.lel. Doch sobald in Barcelona die Lichter angehen, erstrahlen die gelbleuchtenden Mühlenflügel vor einem rotblinkenden Hintergrund und verleihen ihrem Namen alle Ehre.
El Molino spielte im Barcelona des beginnenden 20. Jahrhunderts eine führende Rolle, als sich an der früheren Prachtstraße im sogenannten Montmartre Barcelonas noch unzählige Theater und Cafés aneinanderreihten und das Bürgertum abends in eleganter Kleidung flanierte und sich dem Nachtleben hingab.
Erzählen wir etwas zur wechselvollen Geschichte eines der ältesten Theater Barcelonas. 1898 wurde die etwas heruntergekommene Kneipe La Pajarera von ihrem Besitzer an einen Andalusier für 100 Peseten verkauft, etwas verschönert und 1899 unter dem Namen La Pajarera Catalana, (Der katalanische Vogelkäfig) weitergeführt . Das lebenslustige Nachtleben des Lokals bestand hauptsächlich aus andalusischen Flamencoshows, gemischt mit Kabarett, Auftritten von Bauchrednern und Komikern sowie zeitweiligen Aufführungen von Zarzuelas (spanische Operetten). Im Jahr 1910 wurden weitere Modernisierungen durch den Architekten Manuel Joaquim Raspall, Schüler des modernistischen Architekten Domènech i Montaner, vorgenommen und das inzwischen florierende Lokal umgetauft auf den Namen Petit Moulin Rouge –Anspielung auf das Pariser Original. Das Lokal war sogar 1926 für kurze Zeit politischer Sitz der von Miguel Primo de Rivera gegründeten Partei Unión Patriótica Española.
Zur Weltausstellung 1929 in Barcelona bekam das Theater eine neue Fassade und die charakteristischen roten Mühlenflügel, eine Ausstattung, die bis zum Ausbruch des Spanischen Bürgerkrieges 1936 erhalten blieb. Während des Francoregimes musste der Name zwingenderweise hispanisiert und das politische Reminiszensen erweckende französische Adjektiv „rouge“ gestrichen werden.Von nun an hieß das Theater schlichtweg El Molino.
Nach einem wirtschaftlichen Bankrott in den 1960er Jahren übernahm Doña Fernandita, die Witwe des Besitzers von El Molino das Ruder und steuerte den Festsaal mit eisener Disziplin und finanziellem Sparmodus aus der Krise hinaus bis zur Mitte der 1990er Jahre, als auch zahlreiche andere Theatersäle nach und nach verfielen und ihre Türen definitiv schließen mussten. Vor der Schließung dieses Theaters trat am 14. November 1997 die Startänzerin Merche Mar zum letzten Mal auf der Bühne im Spektakel Pluma y peineta, ohne zu wissen, ob das Lokal jemals wieder geöffnet würde.
Zwischen 2006 und 2010 wurde das Variététheater grundlegend saniert und umgebaut in eine moderne Music Hall. Das Hintergebäude zählt nunmehr fünf Stockwerke. Das Orchester ist auf einer Drehbühne untergebracht. Wie eh und je finden zu nächtlichen Stunden Burlesque-Theatervorführungen und Flamenco-Shows statt. Die Diskothek und das Restaurant bieten Musik, Speisen und Getränke, die auf Wunsch sogar an den reservierten Platz gebracht werden. Das historische Klavier der unvergesslichen Vedette Bella Dorita hat einen Ehrenplatz im Lokal erhalten.
Am 18. Oktober 2010 eröffnete das neugestaltete El Molino. Merche Mar, Vedette und Grand‘ Dame aus den 1960er Jahren, präsentierte die Show Made in Paral·lel: ein historischer Rückblick auf das Theater, seine vielfältigen künstlerischen Darbietungen – Striptease, Humor, Magie und Multimedia – und namhaften Künstler und Tänzerinnen, die während des vergangenen Jahrhunderts auf der Bühne ihre Künste dargeboten hatten. Zur glanzvollen Wiedereröffnungszeremonie waren neben den Honoratioren und Bürgern des Stadtviertels Poble Sec auch der damalige Bürgermeister Barcelonas Jordi Hereu und die ehemaligen Präsidenten der Generalitat Pascual Maragall und José Montilla geladen.
Über ein Jahrhundert lang haben sich auf der Bühne von El Molino etliche Künstler profiliert und/oder einen Namen gemacht. Sie alle haben der strengen politischen Zensur, dem Krieg und dem Hunger getrotzt, sind ihnen mit dem Witz ihrer eigenen Gesetze entgegengetreten, haben Spanien in schwierigen Zeiten eine Portion freiheitlichen Geistes, den Stolz eines Stadtviertels und ungekünstelte Erotik präsentiert. Die bekanntesten Tänzerinnen waren zweifelsohne la Bella Dorita, Yvette René, eine mit Maurice Chevalier verwandte Französin und die erwähnte Startänzerin Merche Mar.
Seit Jahrzehnten schon wollte ich eines der prickelnden Spektakel, für die El Molino bekannt war, selbst erleben, jedoch kam immer irgendetwas dazwischen. Daher gewinnen die Jugenderinnerungen einer Freundin über eine Abendvorstellung in El Molino gegen Ende der Franco-Zeit doppeltes Interesse. Mit ihrer Erlaubnis zitiere ich ihre Eindrücke:
„Es war im Jahr 1974 m Juni. Alle Sitze rotplüschig. Ich erinnere mich nicht an die Namen der Vedettes. Sie waren alle sehr züchtig bekleidet in der Zeit – es gab keine nackten Busen. Nur blitzte manchmal der Bruchteil einer Brustwarze hervor, was schon sehr gewagt war. Die Lieder und Texte waren zweideutig. Damals verstand ich nicht viel, aber BUTIFARRA mit Handzeichen betont, war jedem verständlich. Die Tanzkünste waren sehr mäßig, es war mehr ein Auf- und Abschreiten mit schweren Federdekos auf dem Rücken. Die Star-Vedette hatte den größten Federkranz um sich. Schön war die Live-Musik aus dem Orchesterraum. Er lag etwas tiefer als die Bühne. Ein Getränk bekam man an den Platz. Etwas später konnte man nach der Vorstellung im gleichen Saal zu Abend essen. Aber es lohnte sich nicht. Da waren die vielen Tapasbars und Restaurants auf dem Paral.lel viel attraktiver.“
Aus dem modernisierten El Molino erzählte mir eine andere Freundin aus dem Jahr 2016 andere Begebenheiten. Vor Beginn einer Show sollte man früh genug erscheinen, um einen guten Platz zu ergattern, da keine Sitzplatzreservierungen vorgesehen waren. War der Platz in Beschlag genommen, wurden die Gäste von den Künstlern dorthin begleitet. War mit der Eintrittskarte eine Flasche Wein gebucht, so wurde sie an den Platz gebracht. Wieder zog die berühmte Merche Mar mit ihrer frech-frischen Art das Publikum in Bann, fragte jeden, woher er komme, und bat manchen Gast zur Hilfestellung auf die Bühne. Kleine Strips würzten das ganze etwa anderthalb Stunden dauernde Spektakel, in dem gestaunt, gelacht und gezittert wurde.
Beide Schilderungen aus unterschiedlichen Epochen haben mich so neugierig gemacht, dass wir uns demnächst zu einem besonderen Anlass einen stimmungsvollen Variété-Abend in El Molino gönnen und danach im Theater oder auf dem Paral.lel eine copita zu Gemüte führen werden. Wer kommt mit?
Von Dr. Evelyn Patz-Sievers, Augsut 2023
Infos
El Molino,
Carrer de Vila i Vilà , Barri: Poble Sec – Districte Sants/ Montjuïc
Schlagwörter: Barcelona, Kultur