Ein gutes Buch ist zeitlos

Die Romanautorin Care Santos, Foto Xavier Torres-Bacchetta
Dossier Sant Jordi: Interview mit Care Santos, Autorin von fünfzehn Romanen, ausgezeichnet mit dem Premi Ramon Llull 2014, dem Premio Nadal 2017 und dem Premio Cervantes Chico 2020.
Ina Laiadhi, 16. März 2025
Nachdem ich ganz begeistert war von ihrem Roman „Media Vida“, konnte ich nicht umhin sie gleich um ein Interview zu bitten. Wir treffen uns im virtuellen Raum an einem Sonntagmittag und star-ten gleich in eine angeregte Diskussion um Literatur, Kritik und Herausforderungen auf dem Buchmarkt.
Care, können Sie uns etwas über Ihre literarische Karriere erzählen?
In diesem Jahr ist es 30 Jahre her, dass ich mein erstes Buch, einen Band mit Kurzgeschichten, 1995 veröffentlicht habe. Am 26. April werde ich meinen literarischen Geburtstag feiern. Ein ganzes Leben lang habe ich geschrieben, 30 Jahre lang habe ich veröffentlicht. Ich bin Romanautorin und Geschichtenerzähler, obwohl ich auch andere literarische Genres mag. Gelegentlich habe ich damit experimentiert. Am bekanntesten bin ich als Roman-autorin. Ich habe das Glück, für Leser ganz unterschiedlicher Altersgruppen und Typen schreiben zu können. Ich schreibe für Leute, die jung geblieben sind. Am 21. Mai steht die Veröffentlichung meines 16. Romans mit dem Titel “El amor que pasa” an.
Schreiben Sie für junge Menschen oder für ein junges Publikum?
Mir gefällt die von Emili Teixidor geprägte Definition von Jugendliteratur sehr gut: “Jugendromane sind Romane, die auch von Jugendlichen gelesen werden kön-nen”. Ich denke, dass ein guter Roman von jedem gelesen werden kann. Litera-tur hat kein Alter. Die Etikettierung von Büchern ist eine Bequemlichkeit des Verlagsmarktes, die wenig mit der Realität der Literatur zu tun hat. Ich strebe da-nach, Romane für alle zu schreiben, aber ich habe viele junge Leser. Es gibt auch viele erwachsene Leser, die überrascht sind und sagen, dass sie diese Bücher wirklich gerne gelesen haben.
Welche Rolle spielt die Kritik im Roman oder in der Literatur?
Es gibt kaum noch ernsthafte, akademi-sche Kritik. Sie muss sich neu erfinden, weil es außerhalb der akademischen Welt wenig zuverlässige Kritik gibt. Die Literaturbeilagen haben aufgehört, Trends zu setzen. Ich glaube, weil es an Lesern mangelt. Die Formate haben sich stark verändert. Ich war 25 Jahre als Kritikerin in verschiedenen Medien tätig. Ich denke, dass Kritik nützlich sein kann, aber es bleibt die Meinung einer einzelnen Person, wenn auch eine qualifizierte. Vielleicht besteht ein Bedarf an eingehende-rer Kritik, die über das hinausgeht, was in den Medien gemacht wird.
Wie können wir dies erreichen?
Ich weiß nicht, das ist auch nicht meine Aufgabe (sie lacht). Ich war mein ganzes Leben lang ruhelos, ich habe mich sehr für die Verbreitung von Literatur und kulturellen Aktivismus interessiert, wenn auch heute nicht mehr so sehr, weil ich nicht alles schaffe. Zu einem bestimmten Zeitpunkt in meinem Leben gründete ich einen Blog mit dem Namen “La tormenta en un vaso”, einen kritischen Blog, ge-macht von Autoren. Unser Motto war “Ein gutes Buch für jeden Tag”. Die Idee war, keine schlechten Rezensionen zu schrei-ben, sondern fundierte und seriöse Rezensionen, die von Leuten aus der Bran-che verfasst wurden. Die meisten von ihnen waren Schriftsteller und einige Kritiker. Der Blog bestand etwa 12 Jahre lang und war ein Leuchtturm für viele Menschen. 12.000 Rezensionen im Laufe seiner Geschichte. Ich vermisse einen Raum, in dem qualifizierte Menschen Bücher bedingungslos und in absoluter Freiheit bewerten, ohne von irgendjemandem finanziell abhängig zu sein. Ich vermisse eine zuverlässige und kostenlo-se Orientierungshilfe für Leser.
Trägt dies zur Entwicklung unseres Urteilsvermögens bei?
Wir Leser brauchen Orientierung, denn es werden so viele Bücher veröffentlicht. Wir brauchen eine qualifizierte Meinung, die uns etwas Interessantes zeigt, das wir vielleicht noch nicht gesehen haben. Die kommerzielle Kritik sollte Schöpfer und Leser zusammenbringen. Es gibt sie im Kino, in der Kunst, in der Malerei, aber in der Literatur steht sie immer unter Ver-dacht, weil Literaturbeilagen von großen Gruppen mit ihren Interessen abhängen und es schwierig ist, ihnen zu vertrauen.
Welchen Stellenwert hat die Frau in der spanischen Literatur?
Glücklicherweise wird sie immer wichtiger. Die Verlagswelt ist in ihren Anfängen überwiegend weiblich: Literaturagenten und Lektoren sind meist Frauen. Aber wie in so vielen anderen Berufszweigen auch, werden sie, sobald man in verantwor-tungsvollere Positionen aufsteigt, zu Männern – wie seltsam! Obwohl sich der Trend ändert, gibt es immer noch keine Parität zwischen männlichen und weiblichen Autoren, vor allem nicht bei renommierten Preisen, wo es wesentlich mehr Männer als Frauen gibt.
Bewerben sich mehr Männer als Frauen?
Nein, ich spreche von prestigeträchtigen Preisen wie dem Cervantes-Preis oder dem Preis der Princesa de Asturias. Sol-che Preise werden von Institutionen für veröffentlichte Werke oder große Karrieren verliehen und gehen in der Regel an Männer. Sie sind von Männern dominiert. Es gibt nur sehr wenige mit Paritätskriterien. Der Cervantes Chico ist eine Ausnahme, da er jedes Jahr abwechselnd an Männer und Frauen vergeben wird. Ohne Paritätskriterien neigen die Jurys, meist Männer, dazu, Preise an andere Männer zu vergeben. Ich glaube, die Männer sind sich heute schon sehr bewusst, dass Frauen zugelassen werden müssen, weil wir viele Jahrhunderte unter ungleichen Bedingungen verbracht haben. Ich denke nur, es gibt eine gewisse Trägheit (lacht). Es ist wie eine kulturelle Gewohnheit, den Männern mehr Prestige zu geben als den Frauen. Wir stellen uns Männer leichter in prestigeträchtigen Positionen vor.
Wie erleben Sie als Schriftstellerin das Zusammenleben von zwei Sprachen: Spanisch und Katalanisch?
Ich schreibe in zwei Sprachen, Spanisch und Katalanisch. Das ist sehr wichtig für mich. Beides sind meine Muttersprachen. Zweisprachig zu sein ist in Katalonien kein Verdienst, aber in zwei Sprachen zu schreiben, ist eine persönliche und intime Entscheidung. Zuerst war ich in Sorge, weil es heißt, dass man nicht in zwei Sprachen schreiben kann. Ich habe beschlossen, in beiden zu schreiben und meine eigenen Bücher zu übersetzen. Es ist eine Übung in Ehrlichkeit und eine Menge Arbeit, aber es ist für mich unerlässlich. Ich schreibe in beiden, ich lese in beiden, ich spreche in beiden. Schließlich habe ich vor vielen Jahren beschlossen, das zu tun, was ich tun wollte, nämlich in beiden Sprachen zu schreiben (sie lacht). Wenn Sie ein Buch von mir in der einen oder anderen Sprache lesen, sind beide original.
Übersetzen Sie alle Ihre Bücher?
Ja, immer. Einmal hat ein Schriftstellerkollege für mich übersetzt, den ich sehr schätze, aber ich habe mich in dieser Übersetzung nicht wiedererkannt. Ich ziehe es vor, es selbst zu machen, um die Authentizität zu wahren.
Wie wichtig ist die Übersetzung für Sie?
Übersetzungen sind immer ein Geschenk. Es gibt keinen Schriftsteller, der nicht neidisch wäre, zum Beispiel auf einen Musiker, der eine universelle Sprache hat. Du spielst Klavier und brauchst keine Übersetzung. Jeder ist in der Lage, sich davon berühren zu lassen. Im Gegensatz zur Musik muss die Literatur übersetzt werden, um andere Zielgruppen zu erreichen. Das ist teuer, und nicht alle Verle-ger sind daran interessiert oder investieren in diese Arbeit. Ich vertraue meinen Verlegern und Übersetzern und stehe in ständigem Kontakt mit ihnen. Ein Übersetzer liest einen Text sehr sorgfältig, und seine Anmerkungen können für künftige Ausgaben sehr nützlich sein.
Wenn das Kino an Ihre Tür klopfen wür-de, welches Buch würden Sie wählen?
Von meinem Roman “Habitaciones cerradas” gibt es bereits eine Fernsehadaption, eine Koproduktion zwischen Televi-sión Española und TV3. Wenn mich ein Regisseur bitten würde, einen weiteren Roman zu adaptieren, wäre ich mit jedem einverstanden. Einige sind schwieriger zu adaptieren, wie z. B. einer, der im 19. Jahrhundert spielt, was allein für das Bühnenbild und die Kostüme eine Menge Geld kosten würde. Andere, wie “Todo el bien y todo el mal”, wären viel günstiger, weil der Roman an einem einzigen Ort spielt, einem Flughafen.
Welcher der fünf Protagonisten Ihres Romans “Media Vida” ist Ihnen am ähnlichsten?
“Media Vida” eignet sich auch für eine Adaption. Das würde mir gefallen, weil es sehr theatralisch ist. Wem bin ich am ähnlichsten? Da ist Marta, eine Schriftstellerin, der ich einen großen Teil meines beruflichen Gedächtnisses geliehen habe. Ich bin nicht wie Lola oder Nina. Olga ähnelt eher vielen Frauen, denen ich in meiner Kindheit nahe war. Ich würde gerne Julia ähneln, so mutig, so bahnbrechend in so vielen Dingen, aber ich glau-be nicht, dass ich so bin, obwohl ich es gerne wäre.
Es gibt viel Gewalt gegen Frauen in der Welt. Wird sie in der Literatur ausrei-chend angeprangert oder bagatellisiert?
Die Literatur prangert alles an und sagt, was anderswo nicht gesagt wird. Belletristik ist ein guter Ort, um Dinge zu sagen, die anderswo nicht gesagt werden kön-nen. Um diese Art von unbequemen Wahrheiten zu sagen, die uns nicht ein-mal die Politiker sagen. Und die wir alle kennen. Der Roman ist ein wunderbares Terrain. Es gibt immer mehr Sensibilität. 80 % der Leser sind Frauen. Außerdem gibt es viel mehr Schriftstellerinnen als früher. Auch die Intimität, die Stimme des “Ichs” hat zugenommen. All dies ermutigt die Menschen, über jede Art von Miss-brauch zu sprechen, auch über männliche Gewalt und Missbrauch gegen Frauen. Die Rolle, die wir Frauen im Laufe der Ge-schichte gespielt haben, wird in der Lite-ratur häufiger thematisiert.
In dem Roman “Media Vida” sprechen Sie über viele Situationen, die Frauen erlebt haben.
Dieser Roman ist eine Hommage an die spanischen Frauen, die unter Franco geboren und während der Diktatur aus-gebildet wurden. Ich zolle diesen Frauen Tribut, die einen langen Weg zurückgelegt haben, um die heutige Gesellschaft zu erreichen. Als sich die Gesellschaft zu verändern begann, wurden sie überrascht und mussten reagieren. Denn was die Gesellschaft ihnen plötzlich vorschlug, entsprach nicht der Erziehung, die sie erhalten hatten. Sie alle mussten sich angesichts dieser neuen Realität neu positionieren. Das ist die Generation meiner Mutter, nicht meine. Gerade deshalb habe ich über sie geschrieben, weil ich sie sehr gut kenne. Meine fünf Protagonistinnen bilden ein Mosaik der Frauen ihrer Zeit. Jede von ihnen ist eine andere Antwort auf das, was ihnen das Leben vor die Nase gesetzt hat.
In der gegenwärtigen Situation wachen wir in Europa in einem Alptraum auf. Welche Rolle kann ein:e Schriftsteller:in in dieser Situation spielen?
Erinnern. Die Literatur hat immer dassel-be getan: sich erinnern, um nicht verges-sen zu werden. “Media vida” regt diese Debatte an. Diese Generation, von der wir sprachen, hat aktiv und hart gekämpft. Und nun sieht sie verzweifelt, wie es zu Rückschritten kommt. Die Fiktion muss uns daran erinnern, wie die Dinge sind und wie sie sein können, wenn wir sie nicht aufhalten. Jetzt ist ein kritischer Moment. Wir leben im Zeitalter der In-formation, aber ich glaube, diese Informa-tion ist oft Überinformation. Wir sind so überinformiert, dass wir nichts mehr wissen. Eloquente, dumme, provokative und kriegerische Reden triumphieren, weil es an kritischem Geist mangelt. Das ist sehr beunruhigend.
Im April feiern wir den Monat der Bücher mit vielen Aktivitäten rund um die Legende von St.Jordi. Wer ist Ihre Lieb-lingsschriftsteller:in?
Einen Lieblingsautor habe ich nicht. Ich lese sehr viel und es ist schwierig, nur einen Autor zu nennen. Es gibt Autoren, die ich mein ganzes Leben lang verfolgt habe. Ich bin ein sehr guter Leser von Gedichten. Ich kaufe keine Bücher am St.Jordi-Tag. Für echte Leser ist es der einzige Tag im Jahr, an dem wir keine Bücher kaufen. Ich kaufe das ganze Jahr über eine Menge Bücher, mir fehlt es nie an neuer Poesie.
Hätten Sie Lust, zum Treffen des Klub Hannah am Goethe-Institut in Barcelona zu kommen?
Mit Freude, vielleicht im Juli, weil ich jetzt mit meinem neuen Roman ausgelastet bin, der am 21. Mai erscheint, “El amor que pasa” bei Destino.
Care Santos, vielen Dank für die offene und ehrliche Diskussion.
Infos
www.caresantos.com/
Media Vida, Destino
(DE- Als das Leben vor uns lag, Bastei)
El amor que pasa
Columna Editions, 21.5.2025, 368 S.
Schlagwörter: Frauen, Kultur, Literatur