„Keine Delikatessen“

Die Veranstaltung fand großen Anklang: Foto Claudia Kalász
Dossier St. Jordi 2025: Ingeborg Bachmann und Maria-Mercè Marçal im Dialog
«Lleialtat és nom de dona», Lleialtat ist ein Frauen-name, unter diesem Motto organisierte das Bürger-zentrum von Sants, „La Lleialtat Santsenca“, im Frauenmonat März eine Reihe von Veranstaltungen, die sich auf literarische Weise mit verschiedenen Aspek-ten der Rolle der Frau in der Kultur und der Geschich-te befassten.
Am 6. März wurde der Zyklus mit einer szenischen Lesung eröffnet, die zwei so unterschiedliche Dichterinnen wie die Österreicherin Ingeborg Bachmann (Klagenfurt, 25. Juni 1926 – Rom, 17. Oktober 1973) und die Katalanin Maria Mercè Marçal (Barcelona, 13. November 1952 – 5. Juli 1998) in einem imagi-nären Dialog vorstellte. Anhand ausgewählter Gedichte, Prosa und Interviews kristallisierten sich ihr Verständnis von Literatur, Politik und weiblicher Autorenschaft in einer von Männern dominierten Gesellschaft heraus. Auf einer kleinen Bühne saßen die beiden Sprecherinnen, die aus den Werken der Autorinnen vortrugen, die eine vor einer alten Schreibmaschine, die andere vor einem Laptop der neunziger Jahre. Zwei weitere Sprecherin-nen moderierten die Lesung mit Erklärungen zu den Texten.
Doch was verbindet Bachmann und Marçal, deren historischer, kultureller und sprachlicher Hintergrund wenige Gemeinsamkeiten vermuten lässt?
Ingeborg Bachmann wuchs in der österreichischen Kriegs- und Nachkriegsgesellschaft auf, ließ sich in Rom nieder, verband ihr Schreiben wie viele ihrer Kolleg:innen mit einem tiefen sozialen und politischen Verantwortungsgefühl, feierte ihre größten Erfolge in den fünfziger Jahren mit den Gedichtbänden Die gestundete Zeit und Anrufung des großen Bären und erwies sich in ihrem Prosaprojekt Todesarten als scharfe Kritikerin der zerstörerischen patriarchalen Macht über Frauen.
Maria-Mercè Marçal war zehn, als Ingeborg Bachmann 1973 in ihrer römischen Wohnung Opfer eines Brandunfalls wurde. Marçal wuchs im ländlichen Ivars d’Urgell auf, bis sie zum Studium der klassischen Philologie 1969 nach Barcelona zog. Der späte Franquismus überschattete ihre Jugend. Ihre Rebellion, die sie zur politischen Aktivistin, Feministin und Lyrikerin machte, fasste sie in ihrer berühmten „Devise“ zusammen: „A l’atzar agraeixo tres dons: haver nascut dona, de classe baixa i nació oprimida. – I el tèrbol atzur de ser tres voltes rebel.“ („Dem Zufall verdanke ich drei Gaben: geboren zu sein als Frau, aus niedrigem Stand und unterdrückter Nation. Und dem wirren Azur, dreifach Rebellin zu sein.“)
Marçal hat Bachmann gelesen, meist in spanischer oder französischer Übersetzung, bis endlich 1995 die gesammelten Gedich-te in der katalanischen Übertragung von Teresa Pascual und Karin Schepers erschienen. Von ihrer Begeisterung für Bachmanns Suche nach der wahrhaften, grenzüberschreitenden Sprache zeugen Notizen und eine Rezension, die sich im Nachlass der im November 1998 mit 45 Jahren verstorbenen Auto-rin gefunden haben. Unter ihren Papieren war auch der Bleistiftentwurf einiger Verse, in denen sie ankündigt: „Fest steht: Nie mehr ein Dekasyllabus“. Marçals Verzichtserklärung auf das traditionelle zehnsilbige katalanische Versmaß erinnerte die Initiatorinnen der szenischen Lesung an ein Gedicht Ingeborg Bachmanns mit dem Titel Keine Delikatessen. Darin heißt es: „Soll ich / eine Metapher ausstaffieren / mit einer Mandelblüte? / die Syntax kreuzigen / auf einen Lichteffekt?“ Die überein-stimmende Absage beider Dichterinnen an das exquisite, ästhetisierende Gedicht gab den Anstoß zur Suche nach anderen Resonanzen und Korrespondenzen.
Zahlreiche Anklänge waren an dem Abend zu hören: in der Klage um die geschändete Natur angesichts der atomaren Be-drohung, in der Spannung des sprachlichen Bogens, in der Zurückeroberung der unterdrückten weiblichen Perspektive, in der Entlarvung des Kriegs noch in den intimsten menschlichen Beziehungen, aber auch in der Vision einer neuen Sprache, die uns die Augen öffnet.
Das war: Prou Delikatessen! – Un diàleg entre Ingeborg Bachmann i Maria-Mercè Marçal
Ort: « La Lleialtat Santsenca », Olzinelles, 31
Sprecherinnen: Ingeborg Bachmann: Dora Casas Ros, Maria-Mercè Marçal: Núria Alba-Romà
Erklärungen zu Ingeborg Bachmann – Claudia Kalász
Erklärungen zu Maria-Mercè Marçal – Fina Llorca Antolín
Textauswahl und Erläuterungen: Fina Llorca Antolín und Claudia Kalász
Technik: Milo Ramellini Llorca
Musik: Ejadira, von Sara Calvanelli und Virginia Suter
Sprache: Katalanisch
Die Initiatorinnen hoffen, einem Publikumswunsch entsprechend, weitere Aufführungsmöglichkeiten zu finden.
Von Claudia Kalász, März 2025
Schlagwörter: Europa, Frauen, Geschichte