“Gib die Dinge der Jugend mit Grazie auf”
Dossier St. Jordi 2025: Elisabeth Moltmann-Wendel
Vielleicht haben Sie ja auch schon mal ein Buch gesucht über das Älter-Werden. Und selbst wenn Sie nicht aktiv gesucht haben, wird Ihnen durch die Medien das eine oder andere Buch zum Thema bekannt geworden sein, z.B. Joachim Fuchsbergers Alt Werden ist nichts für Feiglinge (2010) oder Elke Heidenreichs Altern (2024).
Um meinen 70. Geburtstag herum (im Januar 2025) traf ich auf ein Buch, dessen Titel mich sofort ansprach: Gib die Dinge der Jugend mit Grazie auf, von Elisabeth Moltmann-Wendel
An Elisabeth Moltmann-Wendels Buch, erschienen 2008 im Stuttgarter Radius Verlag, fiel mir sofort das Wort „Grazie” auf. Ich steckte gerade in einem Umzugsprozess, bei dem ich ein ganzes Haus ausräumen musste, und genau dies war und ist auch mein Wunsch: Nicht einfach alles dem Sperrmüll übereignen, sondern die verbleibenden Dinge des Hauses mit Grazie – ich setze dies gleich mit „beschwingter Würde” – aufgeben. Dass ich vieles aufgeben musste, daran war nicht zu rütteln, die Frage war nur: WIE.
Aber erst noch ein paar Worte zur Autorin. Elisabeth Wendel, geboren 1926 in Herne im Ruhrgebiet, wuchs in Potsdam auf. Nach dem Krieg studierte sie evangelische Theologie, promovierte 1951 und heiratete ein Jahr später den Theologen Jürgen Moltmann. Nach mehreren Reisen in die USA wurde sie ab 1972 eine der Pionierinnen der feministischen Theologie in Deutschland. Sie lebte mit ihrem Mann in Tübingen, wo sie 2016 im Alter von 89 Jahren starb.
In Moltmann-Wendels Buch Gib die Dinge der Jugend mit Grazie auf geht es nicht nur um das Alter. Sie nennt es in der Einleitung ein „Buch der Lebenskunst”, die darin besteht, „die eigene Lebenszeit anzunehmen und zu gestalten”. Als „Dinge der Jugend”, die aufzugeben sind, wenn sie einen beschweren, bestimmt sie Unsicherheit, Unselbständigkeit, Abhängigkeit, Zukunftsangst, Suche nach Schönheit oder Anerkennung, sinnentleerte Rituale und Freundschaften (heute spricht man gern von toxischen Beziehungen), aber auch Denkmuster, Normen und Ideale wie das maskuline Gottesbild, den Eurozentrismus und die Verdrängung von Niederlagen und Trauer. Der mühsame Prozess, sich von diesen Beschwernissen der Jugend zu befreien, kann aber mit Grazie geschehen und eine Leichtigkeit des Seins bringen sowie das, was sie „die Gnade unserer einmaligen Existenz” nennt.
Die Kapitel ihres Buches sind den sogenannten ·Dingen der Jugend” gewidmet und atmen – zumindest aus meiner Perspektive – den Zeitgeist der 1970er und 1980er Jahre, als ich als Jugendliche und Studierende die Folgen der 68er-Bewegung zu spüren bekam. Damals war sozusagen die ganze bundesdeutsche Gesellschaft bereit, die beschwerlichen „Dinge der Jugend” aufzugeben, nur wurden sie nicht als „Dinge der Jugend” betrachtet, sondern als Dinge der älteren Generation, vor allem der Väter, heute heißt es: des alten weißen Mannes. Und noch heute arbeiten wir an der Befreiung von diesen beschwerlichen „Dingen”!
Moltmann-Wendel fand den Satz „Gib die Dinge der Jugend mit Grazie auf” im Baltimore-GEBET, wie sie es nennt. Der Text ist in Wirklichkeit ein Prosagedicht des amerikanischen Rechtsanwalts Max Ehrmann von 1927; es heißt Desiderata (ersehnte Dinge). Darin befindet sich der Satz: “Take kindly the counsel of the years, gracefully surrendering the things of youth.” (Nimm freundlich den Ratschlag der Jahre entgegen, und gib die Dinge der Jugend mit Grazie auf.) Dieses “gracefully” ist es, was Moltmann-Wendel so fasziniert hat, denn damit kann man/frau das Unvermeidliche des Alterns gestalten und darin eine eigene Freiheit finden. In diesem Wort liegt ihr zufolge „ein Zauber, kein Müssen und Sollen”. Sie macht die Grazie fest an der Anmut von Seniorinnen, die im Sitzen tanzen und dabei Leichtigkeit erfahren, weil sie sich ihr hingeben. Gleichzeitig verweist sie auf die zweite Bedeutung des englischen Wortes GRACE, nämlich “Gnade”. Die biblische Gnade bedeutet für sie überfließende Fülle, die aus einem reichen und nicht herablassenden (herrischen, männlichen) Gottsein kommt. Sie plädiert dafür, dieser Gnade des Seins, sprich der Leichtigkeit des Lebens, Raum zu geben, indem man/frau aufgibt, was nicht mehr zu einem passt. (Fortsetzung folgt)
Von Dr. Katharina Städtler, April 2025
Infos
Elisabeth Moltmann-Wendel Gib die Dinge der Jugend mit Grazie auf , Radius Verlag Stuttgart 2008.
Schlagwörter: Biografisches, Frauen, Kultur, Literatur