Lesen ist wunderbar
Interview mit Prof. Dr. Marisa Siguan. Siguan leitet als Mitgründerin die Sociedad Goethe en España (SGE) und hat einen Lehrstuhl für Germanistik an der UB inne.
Aus zeitlichen Gründen treffe ich Dra. Siguan bei einer Zoom-Konferenz, diesem wunderbaren Hilfsmittel, das uns über viele Schwellen hinweg seit der Pandemie den digitalen Austausch erleichtert, auch wenn die Internetverbindung manchmal stockt und wir mehrfach wieder neu starten müssen.
Frau Dra. Siguan, erzählen Sie uns von Ihrem literarischen Parcours.
Ich habe einen Lehrstuhl für Germanistik an der Universidad de Barcelona. Schon in der Kindheit und Jugend habe ich sehr gern gelesen. Das hat mich dazu gebracht, Philologie und Literaturwissenschaften zu studieren. Zuerst bei den Hispanisten und dann bei den Germanisten. So hatte ich alle Autoren und Autorinnen, die mich faszinierten, beisammen. Auf diese Weise konnte ich gut Vergleiche zwischen den beiden Literaturwissenschaften anstellen. Ich habe mich um Rezensionen geküm-mert, die den einen oder anderen Be-reich behandelten.
Sie haben die Goethe Gesellschaft in Spanien (SGE) mitgegründet. Was fasziniert Sie an Goethe?
Wir waren einige Kollegen, die sich dafür engagiert haben, eine Goethe-Gesellschaft ins Leben zu rufen. Dieses Jahr haben wir bereits die 19. Tagung veranstaltet, das heißt, wir sind seit der Jahrtausendwende dabei. Eigentlich sind wir eine sehr unorthodoxe Gemeinschaft, denn wir setzen uns nicht nur für Goethe ein.
Bitte stellen Sie uns die Gesellschaft kurz vor.
Genauer betrachtet, sind wir eigentlich eine Gesellschaft für deutschsprachige Literatur. Warum nicht nur Goethe? Die spanische Germanistik gibt nicht genug Forschung zu Goethe her. Das Schöne an der Gesellschaft ist, dass sie für ganz Spa-nien da ist. Und dass Interessierte von allen spanischen Universitäten dabei sind, die Germanistik anbieten. Die jährlichen Tagungen finden in wechselnden Universitäten statt. Wir haben in Madrid, Sevilla, aber auch in Oviedo, Salamanca, Tarrago-na oder Valencia getagt. Sogar schon auf Mallorca. 2025 werden wir wieder in Valencia sein. In den ersten Jahren haben wir Goethe und seine Zeit behandelt, aber dann sind wir weiter gegangen und haben Kleist oder Heine bearbeitet. Die Kongresse haben sich gewandelt, da wir aktuelle Themen der Forschung ins Visier nehmen.. Das richtet sich nach den Inte-ressen der jeweiligen Organisatoren. Themen waren Interkulturelles, die deutschsprachige Literatur nicht deutsch-sprachiger Autoren oder Literatur und Gewalt. Das ist ein sehr breit gefächertes Spektrum.
Es gibt viele Institutionen, die den Namen Goethe tragen. Goethe für alle?
Ja, es gibt viele Institutionen. Mit dem Goethe Institut arbeiten wir gut zusammen. Und natürlich auch mit der Goethe Gesellschaft in Weimar, in deren Vorstand ich bin. Goethe war ein Genie. Ich glaube, dass er weiterhin modern ist. Wir sehen ihn in der Sociedad GE als Begründer des Konzeptes von Weltliteratur*. Das ist ein sehr guter Schirm für unsere Aktivitäten aus der Universalitätstheorie heraus.
Denken Sie, dass Goethe immer noch modern ist?
Goethe ist unglaublich experimentell. In all seinen Werken hat er immer mit etwas Neuem experimentiert. Zum Beispiel bei der Geburt des Romans. Oder bei seinen naturwissenschaftlichen Untersuchungen. Er hat tatsächlich in seiner Haltung, als Figur viel zu sagen. Das kann faszinierend sein. Der „Werther“ zum Beispiel ist etwas, was junge Leute weiterhin interessiert. Ein Roman wie „Die Wahlverwandschaften“ kann sehr ansprechend sein in dem, was er zur Gesellschaft, zur Liebe und in Bezug zum Leben sagt. Diese Werke finden weiterhin viel Interesse.
Als Professorin für deutsche Literatur an der UB, berichten Sie uns, wie ist die deutsche Literatur nach Spanien gekommen? Oder andersherum: wann haben die Spanier die deutsche Literatur kennengelernt?
Das ist ein faszinierendes Thema. Die deutsche Literatur kommt – genauso wie die spanische nach Deutschland – in großen Teilen über die Franzosen, über französische Übersetzungen nach Spanien. Das ist so auf dem einen wie auch auf dem anderen Weg. Diese Übersetzungen waren damals vielleicht nicht ganz so gut. Ab Ende des 19. Jahrhunderts gibt es in Deutschland ein sehr hohes Interesse an La generación de los 98“** und der Regeneración. Erwähnenswert ist das Phänomen des „Krausismo“***, Kraus ist in Deutschland kaum bekannt, geliebt dage-gen in Spanien als Befürworter der Idee, dass man durch die Kultur das Land modernisieren kann.
Es gab viele Stipendien, damit Spanier in Deutschland studieren. 1932 zum 100. Todestag von Goethe veröffentlichte die Generalitat eine Anthologie von Goethe-Texten, um sie an den Schulen zu vertei-len.
Ich habe selber zur Rezeption von Ibsen und Hauptmann in Spanien geforscht. Im Schlepptau von Ibsen hat Hauptmann einen Riesenerfolg. Man sagte, dass „das Licht von Norden kommt“. Die Spanier gingen nach Deutschland und brachten die Ideen mit. Zu der Zeit fing man an, wirklich Deutsch zu können und gut zu übersetzen.
Wie sieht es mit der spanischen und katalanischen Literatur in Deutschland aus?
Die Blütezeit ist, als die deutschen Roman-tiker den spanischen Barock, das „Siglo de Oro“ entdecken. Sie sind begeistert und machen den ganzen spanischen Barock zur Romantik. Da wird selbst Calderón zum Romantiker. Ich finde es faszinierend, dass um die Jahrhundertwende zum 19. Jahrhundert die Deutschen Enthusiasmus für die Spanier entwickeln und ein Jahrhundert später die Spanier für die Deut-schen.
Europäischer Austausch in Vollendung.
Ja. Wir lachen.
Welche deutschen Autoren und Autorinnen werden in Spanien am meisten gelesen?
Die Klassiker der Moderne werden gele-sen, denn jetzt wird wirklich viel und gut übersetzt: Christa Wolf, Günther Grass, Heinrich Böll, aber auch viele Österreicher wie Peter Handke, Thomas Bernhardt. Was zurzeit geschrieben wird, ist weniger präsent. Ich müsste nachschau-en, was von den jüngsten Büchnerpreis-trägern übersetzt wurde, wie Elke Erk, Clemens, J. Setz, Emine Sevgi Özdamar oder Lutz Seiler. Von Felicitas Hoppe (2012) ist einiges übersetzt, von Terézia Mora (2018) gar nichts.
Die deutsche Sprache wird laufend modernisiert, besonders auch als Ausdruck der feministischen Willensbildung. Gibt es ein solches Phänomen auch in Spanien?
Ich glaube – auch wenn das ein Topos ist –, es geht in Deutschland in dieser Hinsicht viel radikaler zu als in Spanien. Hier ist es gelassener. Die Universität Barcelona hat in meiner Fakultät eine lange Diskussion geführt. Es gab Linguis-tinnen, die sich sehr dagegen gestellt haben. Schließlich hat man beschlossen, davon abzusehen und einfach respektvoll zu schreiben, aber nicht systematisch. Im Spanischen gibt es nicht die Möglichkeit ein Gender-Sternchen zu setzen. Es ist kompliziert. In Mails, also im kommunika-tiven Verkehr, kann man @ sehen, aber nicht in den offiziellen Texten. Es wird auch nicht systematisch gedoppelt.
Gibt es eine „Literatur nach dem Mauerfall“? Haben sich sozialistisches und kapitalistisches Gedankengut getroffen?
Das sozialistische Gedankengut ist momentan nicht sehr auf der Höhe. Es gibt eher einen generellen Trend nach rechts. Aus meiner Perspektive merkt man im-mer noch den Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschland. Wir leben momen-tan in einer ziemlich schweren Zeit. Politisch gesehen ist es zum Teil eine Regressionszeit. In der Literatur, die ich lese, gibt es jedoch immer noch eine Resistenz dagegen.
Heute wird viel über Migrationsthemen gesprochen. Ich will nicht auf die politischen Aspekte eingehen. Aber kann man sagen, dass eine Literatur von Migranten in Deutschland entstanden ist?
Es ist eine Tendenz und nicht nur in Deutschland. Es gibt sehr viel Mobilität. Vielleicht sieht man in einigen Jahren, dass das Neue und Kreative genau von diesen Autoren und Autorinnen ausgeht. Einige Büchnerpreisträger sind vorzügli-che Vertreter. Bis vor kurzem wurde in München ein Preis für Autoren verliehen, die nicht deutsche Muttersprachler sind. Er wurde 2017 eingestellt, weil man Angst hatte, dadurch die Autoren in eine Art Ghetto abzuschieben. In Frankreich ha-ben auch Nicht-Muttersprachler den Buchpreis Goncourt erhalten. Najat El Hachmi**** hat in Spanien 2021 del Premio Nadal erhalten.
Feministische Literatur. Wo stehen heute die Schriftstellerinnen?
Das ist eine schwierige Frage. Ich denke, es gibt inzwischen sehr viele Frauen, wunderbare Schriftstellerinnen, die sehr präsent sind. Vielleicht nicht so sehr in den Institutionen. Ich sehe, dass sich junge Menschen sehr für die Genderfrage interessieren. In einem unserer literarischen Masterstudiengänge Construcció i Representació de Identidats Culturals, an dem verschiedene Fakultäten teilhaben, (Deutsch, Englisch, Französisch, Arabisch und Russisch) und der auch eine Doktorandenlinie hat, gibt es einen sehr starken Bereich für Genderforschung. Die meis-ten Studierenden interessieren sich für diese Fragen. Deshalb gibt es eine Menge Arbeiten und Dissertationen dazu.
In meiner Fakultät sind die Frauen im Betrieb absolute Mehrheit. Eine absurde Situation tritt ein, wenn Kommissionen paritätisch besetzt werden müssen, da nicht ausreichend Männer vorhanden sind oder immer dieselben eingesetzt werden müssen. In Physik oder Mathematik ist es sicher umgekehrt. Sie lacht.
„Auf Kafkas Spuren“, so lautete der Kon-gress der SGE im Mai. Welche Bilanz ziehen Sie? Was hat es an neuen Erkenntnissen gegeben?
Wir arbeiten mit anderen Institutionen zusammen, für Kafka zum Beispiel mit dem Forum Cultural Austria, dem DAAD, dem deutschen Generalkonsulat und sogar dem tschechischen Honorarkonsul. Es gab Vorträge mit neuen Ansätzen zur Kafka-Forschung. Es wurde über seine Zeichnungen gesprochen und wie sie das Bild von ihm erhellen. Oder die Geschichte seiner Manuskripte oder das, was im Deutschen Literaturarchiv in Marbach liegt. Wir haben einen großen Akzent auf die Spurensuche von Kafka in der jetzigen Literatur gesetzt. Da gibt es eine Menge Beiträge von Autoren und Autorinnen, die sich heute mit Kafka befassen. In einem anderen Teil ging es um die Kafka-Übersetzungen ins Spanische und Katalanische.
Das ist sicherlich nicht ganz einfach.
Ja, gar nicht. Der Titel von Miguel Sáenz, der über spanische Übersetzungen ge-sprochen hat, war: Traducir a Kafka es siempre kafkiano. (Kafka übersetzen ist immer kafkaesk). Sie lacht.
Wir hatten auch eine Performance mit Texten zu Kafka. Es war sehr breit gefächert.
Wenn Sie von einer Studentin oder einem Studenten um einen Romantipp gebeten werden, was antworten Sie?
Das hängt davon ab, ob sie gerne lange Romane lesen oder etwas mit viel Hand-lung. Auf Anhieb fällt mir der letzte Ro-man von Emine Sevgi Özdamar ein, „Ein von Schatten begrenzter Raum“, der au-tobiografisch von ihrem Lebensweg han-delt. Den ersten Roman von Terézia Mora „Alle Tage“ finde ich sehr beeindruckend. Den Roman „Kruso“ von Lutz Seiler, der von der allerletzten Zeit in der DDR er-zählt.
Prof. Dr. Siguan, vielen Dank für das sehr bereichernde Gespräch.
Ina Laiadhi, Juli 2024
Infos
Sociedad Goethe España http://www.ub.edu/filoal/sge.html
Universidad de Barcelona
Gran Vía de les Corts Catalanes, 585
Anmerkungen
*Zur Weltliteratur werden literarische Werke gezählt, die über nationale und regionale Gren-zen hinweg große Verbreitung gefunden haben und die gleichzeitig als für die Weltbevölkerung bedeutsam erachtet werden. Goethe sprach davon ab 1827 als Literatur der Franzosen, Italiener, Deutschen, Engländer und Schotten, die aus einem übernationalen, kosmopoliti-schen Geist heraus geschaffen wurde.
**La generación de los 98 analysierte insbeson-dere die Gründe für den Niedergang Spaniens nach den Kriegen Ende des 19. Jahrhunderts. Dazu zählt man u.a. Pío Baroja Azorín, Unamuno, José Ortega y Gasset, Antonio Machado, Vicente Blasco Ibáñez.
***Unter Krausismo versteht man in Spanien eine Lebensauffassung und Weltsicht, die vor allem während der ersten Republik ab 1873 unter Intellektuellen weit verbreitet war. Sie ist benannt nach dem deutschen Philosophen Karl Christian Friedrich Krause.
****Najat El Hachmi, ‘El lunes nos querrán’, Ediciones Destino, ISBN 9788423358779
Schlagwörter: Barcelona, Frauen, Literatur, Moderne Welt