Bildnis aus Schatten. Walter Benjamins Sonette
„Ich bin ein Maler der aus Schatten / Das wunderbarste Bildnis malt“.
So beginnt eins von 73 Sonetten, die erst 1982 in einem Winkel der Pariser Bibliothèque Nationale, 42 Jahre nach dem Tod ihres Autors, entdeckt wurden. Ihr Verfasser ist niemand anders als Walter Benjamin (Berlin, 1892 – Portbou, 1940), der durch kulturkritische Essays, Baudelaire-Studien, das fragmentarische Werk der Passagen über Paris, „die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“, und seine revolutionäre Auffassung des historischen Eingedenkens in den Thesen „Über den Begriff der Geschichte“ als Philosoph bekannt geworden ist.
Weniger bekannt ist das Engagement des Studenten Benjamin in der Jugendkulturbewegung (zeitgleich mit dem „Jugendstil“), deren Hoffnungen und Enttäuschungen sich in den Sonetten wiederfinden. Die „Freie Studentenschaft“ wandte sich in Schriften und Debatten gegen die autoritären Gesellschaftsstrukturen des wilhelminischen Kaiserreichs und propagierte einen Neuanfang aus den Kräften der Jugend. Dabei lernte Benjamin 1913 in Freiburg den um zwei Jahre jüngeren Literaturstudenten und Dichter Christoph Friedrich Heinle (Mayen/Eifel, 1894 – Berlin, 1914) kennen, mit dem er die Begeisterung für die Lyrik Goethes, Hölderlins und des frühen Stefan Georges teilte.
Gemeinsam gingen sie nach Berlin. Doch die so intensive wie konfliktreiche Freundschaft dauerte nur ein Jahr. Am 9. August 1914, acht Tage, nachdem das deutsche Kaiserreich Russland den Krieg erklärt hatte, nahm Heinle sich zusammen mit seiner Freundin Rika Seligson durch Gas das Leben. Als Walter Benjamin in den frühen Morgenstunden benachrichtigt wurde, fand er die beiden Toten bezeichnenderweise in dem „Heim“ ihrer Organisation. Der Freitod war ein Protest gegen die Kriegsbegeisterung der Jugend und den Verrat ihres geistigen Kopfs Gustav Wyneken, der kurz zuvor noch pazifistische Gedanken vertreten hatte. Benjamin war so tief getroffen, dass er ein Jahr lang verstummte. Schließlich verlieh er seiner Liebe und Trauer, der Sehnsucht nach den verlorenen Idealen, dem Wunsch nach Erinnerung und der Suche nach Worten sinnlichen Ausdruck in der strengen Form des Sonetts. Es war eine lange Trauerarbeit. Sein Zyklus entstand zwischen 1915 und 1925.
Arnau Ferre Samon hat sich in die gebrochene Syntax der Gedichte versenkt, bis Sinn, Klang, Melodie und Bilder in der katalanischen Sprache erwachten. Die zweisprachige Ausgabe bei Edicions Reremús mit einem informativen Vorwort von Marc Sagnol und einer Einleitung des Übersetzers ermöglicht nun eine doppelte Wiederentdeckung.
Von Claudia Kalász, Oktober 2024
Infos
Walter Benjamin: Sonette / Sonets
Traducció d’Arnau Ferre Samon, Col·lecció Passatges
Edicions Reremus, Salt, 2024, 184 S., 20,00 €
Schlagwörter: Geschichte, Kultur, Literatur