Kreativität lebt von der Mehrdeutigkeit
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Interview mit der Videokünstlerin Matilde Obradors, Doktorin in audiovisueller Kommunikation, Dozentin an der Universität Pompeu Fabra in Barcelona und Schriftstellerin.
An einem Nachmittag im September traf ich die Videokünstlerin und Dozentin Matilde Obradors zum Interview in der weitläufigen Lobby des eleganten Hotels Pulitzer in der Nähe der Plaça Catalunya, wo sich Matilde Obradors oft mit anderen Dozenten und Dozentinnen trifft, um Fachgespräche außerhalb des Uni-Betriebs zu führen.
Erzählen Sie uns von Ihrem Weg zur audiovisuellen Kunst und Kreativität.
Von der Ausbildung her bin ich Psycholo-gin. Ich habe mich schon immer sehr für Kreativität interessiert. Ich habe viele Jahre lang in der Werbung mit Kreativität zu tun gehabt, und von dort aus habe ich einen neuen Schritt gewagt. Das war entscheidend, denn wir gelangen letztendlich immer an den Ort, den wir erreichen wollen. Auch wenn es eine Weile dauert.
Dann begann ich mich für die Psychologie der Kreativität zu interessieren, die untersucht, wie Menschen Ideen generieren, wie ihr kreativer Prozess aussieht, wie die kreative Person ist. Ich habe meine Doktorarbeit über den kreativen Pro-zess beim Film geschrieben. Das hat sich auf meinen eigenen kreativen Prozess ausgewirkt, und ich begann, Filme, Video-kunst, Landschaftsinterventionen und Performances zu machen. Ich bin eine Künstlerin der sozialen Kunst, eine Künstlerin der Reflexion. Ich verbinde in meiner Arbeit Theorie und Praxis. Das ist eine akademische Methodik, die sich Kunst-praxis als Forschung nennt.
Warum haben Sie sich für den audiovisuellen Bereich entschieden?
Ich mag den Film sehr gerne. Mein Vater hat früher auf 16 mm gedreht. So habe ich es zu Hause erlebt, dass man filmen und Dinge festhalten kann, die einen interessieren. Ich habe einen Kurzfilm auf 35 mm gedreht, der viele Preise gewon-nen hat. Aber ich habe gemerkt, dass es sehr kompliziert ist, ein Filmprojekt auf die Beine zu stellen. Man braucht viele Leute und eine Menge Geld. Also kaufte ich eine Videokamera und begann, Video-kunst zu machen. Die Videokunst als Aus-drucksform der Kunst begann in den 60er Jahren, ihr Pionier war Nam June Paik. Damals wollten sich Künstler und Künstle-rinnen gegen das Fernsehen und die etablierte Kunst, die Galerien und Muse-en wenden. Sie machten ihr eigenes Fernsehen, ihre eigenen Programme und stellten ihre Werke an ungewöhnlichen Orten wie der Straße aus. In der Video-kunst bin ich frei in der Wahl der Inhalte und kann erklären, was ich will. So habe ich mich in diesem Medium ausgedrückt.
Was ist Kreativität?
Ich denke, es ist ein abgenutzter Begriff, der durch Wiederholung seine Bedeu-tung verloren hat. Was wir nicht aus den Augen verlieren dürfen, ist, dass es eine Fähigkeit ist, die alle Menschen besitzen. Wenn ich Ideen habe, wenn ich daran denke, etwas Neues zu tun, erfüllt mich das mit Vitalität. Deshalb kann die Entwicklung kreativer Prozesse den Menschen helfen.
Es gibt verschiedene Grade von Kreativität. Obwohl beide wertvoll sind, ist es nicht dieselbe Kreativität, ein tolles Omelett zu machen, wie das Rad zu erfinden. Sie lacht. Psychologen unterscheiden zwischen: “P-kreativ“: psychologisch-kreativ, was Ideen betrifft, die in Bezug auf den individuellen Verstand grundlegend neu sind, und „H-kreativ“: historisch-kreativ, was sich auf Ideen bezieht, die in Bezug auf die gesamte menschliche Geschichte besonders neu sind. In der Vergangenheit wurden Kreativität und Phantasie gefürchtet und als „die Ver-rückte im Haus” bezeichnet. Es war sehr schwierig, zuzugeben, dass wir diese Fähigkeit haben. Sie wurde wie ein Feind betrachtet. Jetzt, da sie akzeptiert ist, ist es gut, sie in den Schulen zu fördern und sie zu nutzen, um das Wohlbefinden der Menschen zu steigern.
Hier kommen wir zu anderen Überlegun-gen. Denn, wenn man sehr kreativ ist und viele Ideen hat, aber nicht weiß, wie man sie umsetzen kann, hilft einem das nicht weiter. Es ist komplex. Wenn wir hier heute mehr Zeit hätten, könnten wir ein Mosaik zeichnen, in dem wir sehr gut verstehen würden, was die Kreativität anregt und was sie einschränkt. Auf einer ersten Ebene können Sie sich selbst einschränken. Ihr Verstand kann Ihnen Bot-schaften senden: „Das wird nicht gemocht, das wurde schon gemacht, das wird nicht erfolgreich sein…”. Diese Botschaften sind der Feind der Kreativität. Auch Eile hält Sie zurück. Die wichtigste Eigenschaft eines kreativen Menschen ist die Ambiguitätstoleranz. Toleranz steigert Ihre Kreativität. Wenn ich ungeduldig bin, werde ich den Prozess abkürzen. Ambiguitätstoleranz ist wichtig, um Wege nicht zu verschließen. Um nicht vorschnell eine Lösung zu finden.
Die Engländer haben ein Konzept, das aufzeigt, wo Ideen entstehen: die 3 B – Bus, Bath, Bed. Wenn ich aus dem Prozess aussteige und meinen täglichen Aktivitäten im Bus, im Bad oder im Bett nachgehe, kommen die Ideen. Der Geist reagiert, wenn man entspannt ist. Ich rate meinen Schülern und Schülerinnen, einen Weg der Kreativität zu öffnen und dem Geist immer die Möglichkeit zu geben, die krea-tiven Prozesse zu verarbeiten.
In den Kursen stütze ich mich auch auf den Background, die Vorstellungskraft eines jeden Schülers. Wir erstellen Listen mit Erinnerungen. Auf diese Weise kom-men sie mit ihrem System von Vorlieben und Anekdoten in Berührung. Dadurch können sie andere Ideen als die anderen haben. Sie lernen, all das Material zu nutzen, das sie in ihrer Fantasie haben. Ich bringe ihnen bei, sich an das Licht zu erinnern, das durch das Fenster einfällt, wie der Fußboden war, wie das Gesicht ihrer Mutter oder Großmutter aussah. Indem sie ihr Gedächtnis stimulieren, steigert sich ihre Kreativität.
Eine der Übungen, die ich meinen Schülern vorschlage, besteht darin, Videokunst zu machen, die sich mit sozialen Belangen befasst, was für mich ein sehr wichtiges Thema ist. In einer Studie, die ich auf der LOOP durchgeführt habe, einer Plattform, die sich dem bewegten Bild in der zeitgenössischen Kunst widmet und die 2003 in Barcelona als weltweit erste, ausschließlich der Videokunst gewidmete Messe ins Leben gerufen wurde, habe ich festgestellt, dass sich die meisten Künstler mit Fragen des sozialen Bewusstseins beschäftigen.
Ist Kreativität Genie oder Training?
Eine Sache, die ich im Laufe der Jahre entdeckt habe, ist, dass sich die Kreativität mit der Übung verbessert. Es stimmt, dass manche Menschen als Genies oder sehr kreativ geboren werden. Im Alter von 4 Jahren Klavier zu spielen ist genial. Das Genie existiert. In meinem Unterricht sagen mir die Schüler und Schülerinnen oft: Ich bin nicht kreativ! Sie verleugnen ihre Kreativität, aber wenn sie üben, merken sie, dass sich Fenster und Fenster und Fenster öffnen und ihre Kreativität zunimmt. Ich finde diesen Prozess als Lehre-rin sehr lohnend, denn ich helfe ihnen gerne, ihre kreativen Fähigkeiten zu entdecken.
Hat der Verbraucher einen Platz in der Kreativität?
Das hängt von den Zielen ab, die man verfolgt. Wer Kreativität in der Werbung betreibt, muss wissen, wen er ansprechen will. Das wird Zielpublikum genannt. Aber wer künstlerisch kreativ ist, dem ist es im Prinzip egal, es funktioniert nicht. Nie-mand denkt an den Verbraucher. Sie lacht. Es gibt jedoch Künstler und Künstle-rinnen, die sich ihr Publikum aussuchen.
Welchen Platz nehmen Spanien und Kata-lonien in der internationalen Kreativität ein?
Ich denke, Spanien ist ein sehr kreatives Land. Wir haben das mit großen Künst-lern, Schriftstellern, Musikern, Dichtern wie Lorca bewiesen, deren große Kreati-vität etwas Angeborenes zu sein scheint. In Katalonien gibt es zum Beispiel eine große Tradition von großen Designern; es gibt zum Beispiel viele berühmte Archi-tekten.
Was sind Ihrer Meinung nach die besten Werke der letzten Jahre?
Da fällt mir der amerikanische Videokünstler Bill Viola ein, dessen Videoinstallationen auf sehr kreative Weise die menschlichen Emotionen erforschen.
Ich mag soziale Kunst, die zeitgenössische Konflikte in den Vordergrund stellt. Es gibt Künstler, die den Boden bearbeiten, altes Saatgut sammeln und sich gegen GVO (Gentechnisch veränderte Organismen), industrielle Landwirtschaft und Tierhaltung wenden. Diese Künstler greifen aufgrund des Klimawandels in den ländlichen Raum ein.
Die schwedische Künstlerin Hilma af Klint war die Pionierin der abstrakten Kunst (1906), lange vor Kandinsky, Mondrian oder Malewitsch; sie begann abstrakte Werke zu malen, beeinflusst von einer überbordenden Spiritualität. Die Kunstak-ademien weigern sich jedoch, Hilma als Pionierin vor Kandinsky anzuerkennen. Die Handbücher verweigern ihr weiterhin ihren Platz als Pionierin.
Ich möchte auch die bildende Künstlerin Fina Miralles erwähnen und die Anerkennung, die das MACBA ihrem künstlerischen Werdegang mit der Ausstellung „Soy todas las que he sido” zuteilwerden ließ. Eine fantastische Ausstellung.
Sie haben einen Doktortitel in Kommunikation. Welchen Einfluss haben die sozialen Netzwerke auf die so genannte „klassische” Presse?
Das ist nicht mein Fachgebiet, aber ich kann sagen, dass der Einfluss der sozia-len Medien den Journalismus völlig verändert hat. Er hat die geschriebene Presse destabilisiert. Alle großen Zei-tungen haben sich schnell und auf sehr kreative Weise angepasst. Sie nutzen Videos oder Podcasts, um Nachrichten zu verbreiten. Das Problem mit den sozialen Medien ist, dass die Menschen so viele Informationen sehen, dass sie nicht wissen, ob es sich um zuverlässige Informationen handelt. Das ist ein sehr ernstes Problem. Es ist wie ein Zirkus. Es gibt Studien, die erklären, dass jeder von uns nach den Nachrichten sucht, die seine Meinung bestärken, und den Rest ignoriert. Mit anderen Worten: Die Informationen werden nicht gegeneinander abgewogen, und das ist sehr gefährlich.
Besetzen Frauen wichtige Positionen im Bereich der Kreativität? Warum nicht?
Es gibt immer mehr Frauen in verant-wortlichen Positionen. Aber es stimmt auch, dass der Prozentsatz der Künstle-rinnen viel geringer ist, wenn man sich zum Beispiel die Museen ansieht. Ich bin Mitglied der MAV, der Vereinigung von Frauen in der bildenden Kunst. Sie ar-beitet als gemeinnützige Organisation auf horizontale Weise, um unser Haupt-ziel zu erreichen: die Förderung der tatsächlichen und effektiven Gleichstel-lung von Frauen und Männern in unse-rem Sektor, indem wir die Anwendung von Artikel 26 des Gleichstellungsgeset-zes fordern. Wir tun unseren Teil.
Wir sehen mehr Frauen in führenden Positionen in der zeitgenössischen Kunst, wie zum Beispiel
• Elvira Dyangani Ose (MACBA),
• Nuria Enguita (IVAM),
• Beatriz Herráez (Artium),
• Imma Prieto (Es Baluard)
• Bárbara Rodríguez Muñoz (Centro Botín)
Gibt es einen Austausch zwischen den verschiedenen Kreativzentren in Europa?
Es gibt Social Living Labs, Bürgerlabore, die allen Bürgern offen stehen, sowie Fachleuten, staatlichen Technikern, betroffenen Gemeinschaften, in denen sie auf interdisziplinäre Weise in Projek-ten experimentieren und mitgestalten, die das Leben in einem Viertel oder einem Gebiet verbessern sollen. Sie lösen soziale und kulturelle Probleme und helfen auch Organisationen, ihre Nachhaltigkeitsziele zu erreichen. Sie unterstützen benachteiligte Menschen, schaffen Technologieräume und brin-gen verschiedene Generationen zu-sammen. Es handelt sich um ein interna-tionales Netzwerk von Experten, die Erfahrungen austauschen, nicht nur in Europa. Es handelt sich um das, was man soziale Innovation nennt: neue Wege für die Gesellschaft, um relevante sozia-le Herausforderungen zu bewältigen und sie so zu stärken und zu artikulie-ren.
Wir stehen vor dem Dilemma der künstlichen Intelligenz (KI): Wer erschafft wen, die KI den Menschen, der Mensch die KI?
Manchmal habe ich den Eindruck, dass der Begriff „Künstliche Intelligenz” ge-schaffen wurde, um uns zu manipulie-ren und uns Angst zu machen. Es ist die Politik der Kontrolle durch Angst. So wie sie es ausdrücken, scheint es, dass un-sere eigene Intelligenz in Gefahr ist. Wir haben Angst, dass die KI gegen uns re-belliert und uns beherrscht. Wir wer-den verschwinden, sagen die Leute, aber ich denke, das Beste ist, etwas zu unternehmen. Dies muss so schnell wie möglich gesetzlich geregelt werden.
Es hat bereits viele Experimente mit Computern gegeben, die ein Kunstwerk aus Malerei oder Zeichnung entwickeln können. Und im Moment werden KI-Kunstwerke verkauft. Aber es scheint, dass die KI immer noch etwas Mühe hat, qualitativ hochwertige Gedichte zu er-zeugen. Ihre Priorität ist es, den Sinn des Textes zu erhalten und nicht, einen Satz lyrisch zu machen.
Ist die Angst vor der Zukunft durch KI gerechtfertigt?
Ich rate allen, keine Angst zu haben. Warten wir erst einmal ab, wie sich die künstliche Intelligenz entwickelt. Sie hat schon jetzt viele Vorteile, zum Beispiel für die Medizin. Schauen wir uns die guten Dinge an. Selbst meine Studenten haben Angst. Auf einem Filmfestival, das mit KI gemacht wurde, dem +RAIN Film Fest, beschwerte sich ein Student: „KI wird uns die Arbeitsplätze wegnehmen”. Ich denke, wir brauchen keine Angst zu haben, sondern können dazu beitragen, dass sie nicht aus dem Ruder läuft, und ihre Vorteile nutzen. Nutzen wir KI als Werkzeug, um kreativer zu sein.
Vielen Dank für das sehr anregende Gespräch, Matilde Obradors.
Ina Laiadhi, September 2023
Links
Matilde Obradors
https://es.wikipedia.org/wiki/Matilde_Obradors
Fina Miralles
https://www.macba.cat/es/exposiciones-actividades/exposiciones/fina-miralles-soy-todas-que-he-sido
MAV
https://mav.org.es/quienes-somos-2/
Living labs:
Saber más de las obras de Matilde Obradors
2020- La soledad y las semillas. Exposición en el Espacio 7 del Centro Cultural de Manresa.
Barcelona. Segunda exposición del programa “Género y Territorio”. Proyecto comisariado por Roser Oduber, Con el apoyo del Ayuntamiento de Manresa y el Departamento de Cultura de la Generalidad de Cataluña. 26 junio 26 julio.
2020- LRE. Life review experience. INNER SIDE. Residencia virtual en Rad’Art en colaboración con Ratas de Biblioteca, a partir de la condición de confinados. Covid-19. Curator del proyecto, Anton Roca. https://ca.innerside.org/matildeobradors
2019- Residencia de artista en CACIS, Centro de Arte Contemporáneo y Sostenibilidad.
Proyecto: “La soledad y las semillas”. 1-30 agosto. Presentación del working process: La mesa de los días. https://cacis.elforndelacalc.cat/projecte/obradors-matilde/
2018-2019- Performance, Cinematic Still Lifes. La mesa del comedor. Codenownes Liveonline-Livemedia. Fabra y Coats https://www.codenowness.online/cinematic.html
2017- Vestirnos elegantes para comer cadáveres. Centro de arte, Arts Santa Mònica.
Barcelona. Exposición Colectiva: “Politizaciones del malestar” (16 oct – 28 nov.). Curated por Nora Ancarola, Laia Manonelles Moner y Daniel Gasol. www.politizacionesdelmalestar.org
https://polititzacionsdelmalestar.org/matilde-obradors/
2017- Mejor cortometraje Internacional Documental. Exilio. 8 Festival Internacional de
Santo Domingo. FEMUJER.
https://cinemadominicano.com/femujer-entrega-sus-premios-de-octava-edicion/
2014- La Ricarda. Al final de la pista. Videoart.HD · 04′: 40”·Edition of 5 + 2AP.
LOOP Festival. Galería Balaguer. BCN. Presentado por Pilar Parcerisas.
http://www.elpuntavui.cat/article/5-cultura/19-cultura/748136-la-ricarda-al-loop.html?cca=1
http://galeriafidelbalaguer.blogspot.com/2014/06/matilde-obradors-la-ricarda-al-final-de.html
Schlagwörter: Biografisches, Interviews, Kultur