Tanzen oder sterben!
Der syrische Tänzer Ahmad Joudeh
Aufmerksam wurde ich auf diesen jungen Tänzer durch den Fernsehfilm Dance or die (2020) von Roozbeh Kaboly, der Anfang Januar in AR-TE lief (und noch bis 2.4.2021 in der ARTE-Mediathek zu sehen ist). Ich war sehr beein-druckt nicht nur von seinen Leistungen als klassischer und moderner Tänzer und Choreograph, sondern auch von seiner Lebensgeschichte.
Ahmad Joudeh wurde 1990 als staatenloses Flücht-lingskind in einem palästinensischen Flüchtlingsla-ger in Damaskus, der Hauptstadt Syriens, geboren. Sein Vater ist Sohn eines palästinensischen Flücht-lings, seine Mutter Syrerin.
Im Alter von acht Jahren sah er zum ersten Mal eine Ballettaufführung und beschloss, Tänzer zu werden. Bis zum Alter von 16 Jahren brachte er sich das Tanzen selbst bei, unterstützt von seiner Mutter. 2006 bewarb er sich bei der wichtigsten syrischen Ballettgruppe, ENANA Dance Theater in Damas-kus. Er wurde aufgenommen und erhielt von da an regelrechten Unterricht in Ballett, Gymnastik und modernem Tanz. Sein Vater wollte aber keinen Tän-zer als Sohn, weil das in seiner Kultur als unmänn-lich gilt, und verließ nach mehreren Auseinander-setzungen die Familie. Mit der Ballettgruppe bereis-te Joudeh die meisten arabischen Länder Nordafri-kas und des Nahen Ostens.
2011 brach der Syrienkrieg aus. Er zerstörte das Leben der ganzen Familie. Am 29.12.2012 wurde ihr Haus zerbombt, fünf Verwandte kamen im Bür-gerkrieg ums Leben. Joudeh selbst sah sich als Tän-zer fortwährend Angriffen und Bedrohungen von Extremisten des IS ausgesetzt und ließ sich als Zei-chen seines Überlebenswillens das Tattoo „Dance or Die“ in indischer Schrift im Nacken eingravieren, genau an der Stelle, wo das Beil des Henkers bei einer Exekution angesetzt würde. Trotz der lebens-gefährlichen Situation dachte Joudeh nicht daran, das Tanzen aufzugeben. Tanzen heißt existieren, das war und ist sein Motto.
In der arabischen Ausgabe des TV-Tanzwettbewerbs So You Think You Can Dance (SYTYCD), der 2014 im Libanon stattfand, war er zwar einer der besten Tänzer, aber wegen seiner Staatenlosigkeit konnte er im Finale nicht gewinnen. Nachdem er mehrfach Erschießungen von Kindern mitansehen musste, beschloss Ahmad Joudeh 2015, seine Kunst in den Dienst von syrischen SOS-Kinderdörfern zu stellen, indem er dort Tanzunterricht erteilte. Ein Jahr spä-ter schloss er das Higher Institute for Dramatic Arts in Damaskus mit einem Diplom für Tanz und Chore-ographie ab.
Ebenfalls 2016 drehte der holländische Dokumen-tarfilmer Roozbeh Kaboly eine 18-minütige Repor-tage über Joudehs Leben während des Bürger-kriegs, die am 6.8.2016 im niederländischen Fern-sehen ausgestrahlt wurde. Diese sah auch der Di-rektor des Dutch National Ballet, Ted Brandsen, und er sorgte dafür, dass der Dance For Peace Fund den Tänzer nach Amsterdam einlud. Im Oktober 2016 begann Ahmad Joudeh dort ein neues Leben.
Nun gingen viele seiner Wünsche in Erfüllung: Er erhielt eine Privatstunde von seinem Idol Roberto Bolle, der damals in Amsterdam tanzte, debütierte dort im Dezember 2016 in Coppelia und konnte sich 2017 endlich mit seinem Vater aussöhnen, der in-zwischen nach Berlin geflohen war. Seitdem tanzt und choreographiert Ahmad Joudeh in vielen Län-dern Europas und den Vereinigten Emiraten, zuletzt 2019 in Norwegen, und unterstützt Flüchtlingspro-jekte sowie seine Familie in Syrien. 2019 ernannte ihn die Organisation der SOS-Kinderdörfer zu ihrem Internationalen Freund. Im November 2018 erschien im italienischen Verlag DeA Planeta Libri seine Au-tobiographie DANZA O MUORI.
Der Dokumentarfilm von Roozbeh Kaboly wurde in erweiterten Versionen immer wieder gesendet und erhielt 2019 den Emmy Award. Ihm kann man ent-nehmen, dass Ahmad Joudeh an einer Gehirnzyste leidet, die ihm immer wieder große Kopfschmerzen bereitet, und dass sein neues Leben ihn sehr unter Druck setzt. Ich hoffe trotzdem, dass es ihm gut geht.
Katharina Städtler, Februar 2021
Infos
http://www.ahmadjoudeh.com/
https://www.arte.tv/de/videos/098112-000-A/dance-or-die/
Schlagwörter: Moderne Welt