Casa Amatller und die „Illa de la Discordia“
Die Casa Amatller ist Teil der „Illa de la Discordia“, was soviel wie „Häuserblock der Zwietracht“ bedeutet. Dabei geht es um fünf Häuser, die von den berühmtesten Architekten um 1900 entworfen wurden. Die Häuser sind die beste Adresse in Barcelona, Passeig de Gracia Nummer 35–43. Im Jahr 1860 wurden die Stadterweiterung Barcelonas beschlossen, die mittelalterliche Stadtmauer eingerissen und Bauregeln für das späteren Viertel Eixample festgelegt.
Diese Regeln galten auch für den Passeig de Gracia, und die ursprüngliche Häuserzeile Nummer 35-43 hielt sich streng daran, bis die durch die Industrialisierung zu sehr viel Geld gekommenen Unternehmer der Stadt diesen Ort für sich entdeckten. Es begann eine Art Wettbewerb um die Gestaltung des prachtvollsten Gebäudes.
Den Anfang machte Antonio Amatller, als er 1898 Josep Puig i Cadafalch beauftragte, die Fassade, das Erdgeschoß und das erste Stockwerk von Nummer 41 komplett zu ändern. 1905 folgte die Nummer 35, Casa Lleo Morera des Architekten Lluis Domenech i Montaner, der eine Fassade nach dem Vorbild des venezianischen Mittelalters mit Stilelementen des Modernisme gestaltete.
Daneben entstand von Enric Sagnier die Casa Mulleras. Er entwarf eine elegante Fassade mit neoklassischen Stilelementen. 1906 kam am Ende der Häuserzeile die wohl dramatischste Fassadengestaltung mit organischen Formen, verschiedenen Materialien und Farben und einem Drachendach hinzu, die Casa Batllo von Antonio Gaudi. Aus der Reihe fällt die erst 1915 von Marceliano Coquillat gestaltete Casa Bonet, da diese nicht mehr dem Modernisme zuzuordnen ist, sondern dem Noucentisme Stil. Dies ist eine Stilrichtung in Barcelona, die als Gegenbewegung zum Modernisme entstanden ist und herkömmliche zurückgewandte Formen wie den Neobarock bevorzugte. Ob es einen Sieger in der Fassadengestaltung in diesem Häuserblock gibt, mag jeder für sich entscheiden. Unbestritten ist aber, dass die Casa Batllo mit Abstand das berühmteste und am meisten besuchte Haus ist. Die Casa Amatller hat nicht die phantasievolle Fassadengestaltung wie der berühmte Nachbar; aber betrachtet man das gesamte Haus, und dies nicht nur aus kunsthistorischer, sondern auch aus kulturhistorischer Sicht, dann könnten die Plätze sicherlich auch neu vergeben werden.
Der Auftraggeber Antonio Amatller (1851-1910) war in dritter Generation Schokoladenfabrikant. Durch seine Förderung des technischen Fortschritts gepaart mit einem modernen Marketing, machte er die Fabrik zum Branchenführer in Spanien. Seine Idee, dem Produkt die gleiche Bedeutung wie dessen Vermarktung und Verkauf beizumessen, war sehr fortschrittlich. Josep Puig i Cadafalch (1867–1956), der Architekt, war überzeugter Katalane, Archäologe, Kunsthistoriker und Politiker. Er war maßgeblich an den Entdeckungen und wissenschaftlichen Bearbeitungen der romanischen Kirchen im Val de Boi beteiligt. Da er Chef der katalanischen Nationalisten war, musste er nach dem spanischen Bürgerkrieg ins Exil gehen und durfte nach seiner Rückkehr 1942 nicht mehr als Architekt tätig sein.Die Fassade der Casa Amatller ist ein Spiegelbild der unterschiedlichen Interessen des Bauherrn und des Architekten. Sie ist eine gelungene Mischung aus katalanischer Romanik und Gotik, gekrönt von einem typischen flämischen Treppengiebel und vielen Stilelementen des Modernisme. Die Dekoration ist mehrfarbig und besteht aus unterschiedlichen Materialien, ist dabei aber nicht aufdringlich, sondern ausgewogen. Putten halten Tafeln mit Symbolen, die Antonio Amatller als Industriellen, Künstler und Sammler ausweisen. Mandelzweige stehen als Synonym für den Namen Amatller.Das Erdgeschoß wird durch das prunkvolle Treppenhaus bestimmt. Dahinter befinden sich heute ein Restaurant und die ursprüngliche Küche der Casa Amatller. Im ersten Stock sind die Wohnräume von Antonio Amatller und seiner Tochter Teresa im originalen Zustand zu bewundern. Amatller hat die besten Kunsthandwerker seiner Zeit, Bildhauer, Kunstschmiede, Glaskünstler und viele mehr beauftragt, um die Räume prunkvoll zu gestalten. Außerdem gibt es im Haus ein Museum mit der anspruchsvollen Kunstsammlung, besonders antikes Glas des Hausherrn, zu betrachten. Bis 1960 lebte seine Tochter in dem Haus. Von 2011 bis 2015 wurde das ganze Haus aufwendig renoviert und modernisiert. Heute ist es ein Museum.
Es gibt nur wenige Häuser aus der Zeit des Modernisme, die heute noch so gut erhalten sind und mit den originalen Möbeln und Dekorationen ausgestattet sind. Dies ist in erster Linie Teresa Amatller zu verdanken. Sie war die einzige Tochter Antonios und lebte nach der Scheidung ihrer Eltern bei dem Vater. Als sie 37 Jahre alt war, starb der Vater. Teresa übernahm die Geschäfte und sorgte für die Umsetzung der testamentarischen Wünsche des Vaters. Es gibt leider kaum öffentlich zugängliche Informationen über das Leben von Teresa, aber sicher ist, dass sie eine sehr emanzipierte Frau war, die ihre Unabhängigkeit über gesellschaftliche Konventionen stellte.
Die Casa Amatller ist definitiv einen ausgedehnten Besuch wert. Hier kann man in die Zeit und Kultur des Modernisme eintauchen, wie an kaum einem anderen Ort in Barcelona. Genauso lohnend ist es, auch einmal ganz entspannt über den Zaun zum Nachbarn zu blicken, wo sich die Touristenströme durch die Casa Batllo zwängen…
Von Gabriele Jahreiß, Kunsthistorikerin
Info:
https://casessingulars.com/las-casas/casa-amatller/
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