Digitalisierung auf dem Vormarsch
Interview mit Eugènia Serra, Direktorin der Nationalbibliothek von Katalonien
Die Bibliothekarin, Dozentin und Autorin Eugènia Serra leitet seit 2012 die Biblioteca Nacional de Catalunya, die seit 1940 im Gebäude des ehemaligen Hospital de la Santa Cruz in Barcelona untergebracht ist, einem Gebäudekomplex aus dem 15. Jahrhundert mit 12.000m2. Die Bibliothek verfügt über eine Fläche von 8820m² und einen Bestand von ca. 4,4 Millionen Exemplaren. Touristen gehen gerne durch den Innenhof, wo sie in Vor-Coronazeiten dem Trubel Barcelonas für einen Augenblick entgehen konnten. Da die Mobilität eingeschränkt war, wurde das Interview schriftlich realisiert.
Frau Serra, wie sind Sie zur Biblioteca Nacional de Catalunya gekommen?
1979, noch während meines Studiums der Bibliothekswissenschaften, habe ich angefangen, in Bibliotheken zu arbeiten, genauer gesagt in der Bibliothek von Sant Pau. Von dort aus kam ich über eine Auswahlprüfung zur Biblioteca de Cata-lunya (BC), damals noch als Assistentin, da ich noch nicht die nötige akademische Qualifikation hatte, um als Bibliothekarin zu arbeiten. Nach Abschluss meines Studiums begann ich meine berufliche Laufbahn, in der ich in der BC verschiedene Aufgaben in den unterschiedlichsten Bereichen (Kundenservice, Katalogisierung, Technik und allgemeine Koordi-nation) übernommen habe, bis ich zur Direktorin der Einrichtung aufstieg.
Wie sind die historischen Etappen der Bibliothek?
Die BC hat eine hundertjährige Tradition. 1907 gegründet, durchlief sie logischer-weise viele Etappen. Im Großen und Ganzen können wir vier Phasen aus-machen: die Gründungsphase von 1907 bis 1914, als sie als Bibliothek des Institut d’Estudis Catalans mit der Absicht gegründet wurde, eine Nationalbibliothek zu werden. Eine zweite Phase setzte 1914 mit der Mancomunitat de Catalunya ein, die sie als öffentliche, kulturelle Dienstleistung bestätigte. Eine dunkle Periode war die Zeit des Franco-Regimes zwischen 1939 und 1978, in der sie zu einer allgemeinen Bibliothek ohne jegliche Konnotation als Nationalbibliothek wurde. Mit Wiederherstellung der Demokratie erhielt sie 1981 die Funktion als Nationalbibliothek zurück, als das erste Bibliotheksgesetz verabschiedet wurde. Das bedeutet, dass sie der Identifizierung, Sammlung und Verbreitung des katalanischen Erbes besondere Aufmerksamkeit widmet. In dieser letzten Phase gab es auch eine wichtige konzeptionelle und instrumentale Entwicklung der Technologie, so dass die BC vollständig in das digitale Zeitalter eingetreten ist, sowohl in Bezug auf die Sammlung, die sie bewahrt, als auf Dienstleistungen.
Gibt es unter den 4,4 Millionen Büchern in der Sammlung herausragende Manuskripte?
In der Tat besitzt die Bibliothek eine sehr bedeutende Sammlung von Manuskrip-ten verschiedenster Art und Perioden, mit historisch relevanten Werken wie die Homilies d’Organyà (13. Jh.), den ersten literarischen Text in katalanischer Spra-che; das Llibre de l’orde de cavalleria von Ramon Llull (15. Jh.); provenzalische Liederbücher aus dem 14. bis 15. Jh. und mittelalterliche Chroniken, aber auch moderne Manuskriptarchive von so bekannten Persönlichkeiten wie Josep Pla, Josep M. de Sagarra, Eugeni d’Ors, Joan Maragall, Josep Carner oder Jaume Fuster. Dazu Originale von heute noch aktiven Schriftstellern wie Joaquim Carbó oder María Barbal, um nur einige zu nennen. Die Bilbiothek verfügt auch über die dokumentarischen Archive von Institutionen, die Teil der Geschichte Kataloniens sind, wie z.B. die Junta de Comerç de Catalunya, die zwischen der Mitte des 18. und des 19. Jahrhunderts die kommerziellen Aktivitäten in Katalonien regelte; die Archive der Markgrafschaft Moja, der Markgrafschaft Saudín oder der Grafschaft Solterra oder die Archive des Hospital de la Santa Creucon mit Krankenregistern.
Welchen Umfang hat die Digitalisierung von Büchern?
Seit 2005 digitalisieren wir ohne Unter-brechung Dokumente (Bücher, Zeit-schriften, Zeichnungen, Tonaufnahmen, Karten, Partituren oder Fotografien), die wir über das digitale ARCA (Archive of Old Catalan Magazines) und die Digital Memory of Catalonia für jeden im Internet zugänglich machen. Jährlich digitalisieren wir rund 150.000 Seiten. Darüber hinaus haben wir zwischen 2007 und 2010 am Projekt Google Books teilgenommen, um einen großen Teil unserer alten Sammlung zu digitalisieren und zugänglich zu machen. Der überwie-
gende Teil dessen, was wir digitalisieren und ins Internet stellen, sind gemeinfreie Dokumente, d.h. sie sind nicht mehr urheberrechtlich geschützt und können daher frei verwendet werden.
Wie setzt sich Ihre Leserschaft zusammen?
Die Bibliothek ist für alle ab 18 Jahren zugänglich, für Abiturienten ab 17 Jahren, wenn sie an einem Abschlussprojekt arbeiten. Aufgrund der Eigenschaften der Sammlung kommen die meisten unserer Leser aus der akademischen Welt, sowohl Studenten als auch Lehrer und Forscher, obwohl es auch regelmäßige Nutzer gibt, die Fachleute, Verleger, Lokalhistoriker oder einfach Bürger sind, die sich für unsere Sammlung interessieren.
Hat die Pandemie positive oder negative Auswirkungen gehabt?
Wie im gesamten Kulturbereich waren die Auswirkungen hauptsächlich negativ, da wir für einige Zeit physisch geschlos-sen waren, und sobald wir geöffnet hatten, mussten wir Kapazitätsbeschrän-kungen sowohl für die Leser als auch für die große Anzahl von Interessierten umsetzen, die an den kulturellen Aktivitäten teilnehmen, die wir jedes Jahr programmieren. Ein positiver Aspekt hingegen könnte sein, dass wir die Implementierung der Technologie verstärkt haben, da wir gezwungen waren, trotz Einschränkungen auf der Face-to-Face-Ebene weiterhin Service-leistungen anzubieten. In wenigen Monaten machten wir so einen wichtigen Sprung, der in der Situation vor der Pandemie zwei oder drei Jahre Entwicklung bedeutet hätte.
Wie ist die Zusammenarbeit mit anderen Bibliotheken, besonders in Deutschland?
In Katalonien gibt es eine lange Tradition der Zusammenarbeit zwischen Bibliothe-ken. Die Biblioteca de Catalunya arbeitet regelmäßig mit Universitätsbibliotheken, Fachbibliotheken, öffentlichen Bibliothe-ken usw. zusammen und nimmt aktiv an nationalen und internationalen Verbän-den und Foren teil, wo wir die Möglich-keit haben, Kollegen aus der ganzen Welt zu treffen.
Wie finanziert sich die Bibliothek? Neh-men Sie private Büchersammlungen an?
99% der Finanzierung kommen von der Generalitat de Catalunya, aber glücklicherweise erhalten wir jedes Jahr zahlreiche Spenden von Büchern, Zeitschriften, Manuskripten, Partituren, Originalzeichnungen, Ton- und audiovisuellen Aufnahmen, Stichen und Fotografien, die mehr als 50% der erhaltenen Dokumente ausmachen.
Wie schätzen Sie den Beitrag von Frauen zum Schreiben ein?
Der Beitrag von Frauen in jedem Bereich der Gesellschaft ist unbestritten. In der Tat tragen die immer häufigeren Studien mit einer Gender-Perspektive dazu bei, sie zu entdecken. Das Problem ist, dass viele dieser Frauen, die eine aktive Rolle gespielt haben, nicht nur als Schrift-stellerinnen, sondern auch als Wissen-schaftlerinnen oder Künstlerinnen, oft fast anonym geblieben sind. Es ist klar, dass in der Literatur die katalanische Kultur einige große Namen hervorge-bracht hat, von denen einige mehr oder weniger Teil unseres kollektiven Gedächtnisses sind, aber viele andere sind kaum in die breite Öffentlichkeit gekommen.
Wie hoch ist der Anteil an weiblichen Autoren in der Bibliothek?
Diese Information liegt uns nicht vor.
Wird es in 50 Jahren noch gedruckte Bücher geben? Wenn nicht, was wird dann zum St. Jordi-Tag verschenkt?
Nun, dies ist eine permanente Debatte. Vor zehn Jahren waren sich einige Leute sicher, dass Papier bis 2020 verschwun-den sein würde. Wir sehen jedoch, dass dies nicht der Fall ist. Ich glaube ehrlich gesagt, dass digitale und analoge Formate noch viele Jahre nebeneinander existieren werden. Zweifellos werden einige Publikationen wie Zeitungen oder wissenschaftliche Bücher zum digitalen Format tendieren, weil ihr Inhalt eine häufige Aktualisierung erfordert (heute findet diese Transformation bereits statt). Bei anderen, wie dem Lesen von literarischen Werken, glaube ich, dass Papier noch einen langen Weg vor sich hat. Meiner Meinung nach werden wir also noch viele Jahre lang zu Sant Jordi neben den Rosen auch Bücher verschenken können. Allerdings finde ich es unmöglich, 50 Jahre im Voraus zu denken, wenn man bedenkt, wie schnell sich die Welt entwickelt.
Welche Rolle spielt die Bibliothek im katalanischen Gedächtnis?
Eine der Aufgaben der Bibliothek ist es, eine Sammlung von Dokumenten aller Art aufzubauen, die von der Geschichte Kataloniens zeugt, sie für heutige und zukünftige Generationen zu bewahren und zur Verbreitung der katalanischen Kultur beizutragen. Das ist eine wichtige Herausforderung, denn heutzutage müssen wir neben den traditionellen Formaten auch die digitalen konser-vieren (Webs, E-Books, etc.) und diese sind oft flüchtig und verändern sich. Auf jeden Fall ist es eine Herausforderung für die Bibliothek und die Menschen, die in ihr arbeiten, sich anzupassen und zu entwickeln. Es ist komplex, aber gleichzeitig sehr bereichernd.
Was sind die Herausforderungen und Projekte der Bibliothek für die Zukunft?
Neben der Bewahrung und Verbreitung des kulturellen Erbes haben wir einige Anstrengungen vor uns, die mit dem Modell der Nationalbibliothek selbst zusammenhängen, einem Modell, das im Zuge des gesellschaftlichen, internatio-nalen Wandels ständig evaluiert und neu definiert wird. Unter anderem müssen wir unsere institutionelle Sichtbarkeit verbessern, um alle Bereiche der Öffentlichkeit zu erreichen und ihr ein Gefühl für die Relevanz der Sammlung und die Nützlichkeit der von uns angebotenen Dienstleistungen zu schaffen. Wir müssen uns auch an die neuen Gewohnheiten des Kulturkonsums gewöhnen, da die Nutzer, insbesondere die digitalen Nutzer, eine aktive Teilnahme an der Kultur wünschen und nicht nur Zuschauer oder Empfänger von Dienstleistungen sein wollen.
Wie viele der 4.400.000 Bücher haben Sie gelesen?
Ich habe absolut keine Ahnung, wie viele. Das Einzige, was ich sagen kann, ist, dass ich seit meiner Kindheit eine emsige Leserin bin.
Frau Serra, wie danken für die ausführlichen Informationen.
Von Ina Laiadhi, März 2021
Infos
Biblioteca de Catalunya, Barcelona
Carrer de l’Hospital, 56, Tel: 932 702 300
Mo-Fr 10-14h, 15-19h, 2. Samstag im Monat 10-14h
ARCA: https://arca.bnc.cat/arcabib_pro/ca/inicio/inicio.do
Digital Memory of Catalonia: https://mdc1.csuc.cat/
Schlagwörter: Frauen, Kultur