Mehr Empathie für mehr Menschenrechte
Ein US-Grundsatzurteil zur Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen ist seit Ende Juni 2022 Makulatur. Medien weltweit berichteten von der Ohnmacht vieler Menschen gegenüber dem Verlust einer rechtlichen Grundlage, die als längst errungen galt. Seit 1973, um genau zu sein. Im Juli stimmten die Abgeordneten des Europäischen Parlaments symbolisch und mehrheitlich für eine nicht bindende Entscheidung, mit der ein Recht auf Abtreibung in die Charta der Grundrechte der Europäischen Union aufgenommen werden soll.
Wandmosaik der EU-Grundrechtecharta aus dem Jahr 2014, carrer dels Carders 35, Barcelona
(https://bcnroc.ajuntament.barcelona.cat/jspui/handle/11703/83260, Creative Commons CC-BY-NC-ND, Copyright: Juan Corral, Museu Virtual de l’Art Públic, BCNROC Barcelona, Repositori Obert de Coneixement de l‘Ajuntament de Barcelona)
Das Motto der EU, ‚In Vielfalt geeint‘, gilt auch hier. Es gibt große Unterschiede zwischen den EU-Staaten und den politischen Parteifamilien im Parlament. Im TaschenSpiegel-Interview mit Dr. Beate Winkler (siehe vorliegende Ausgabe, Seiten 4 und 5) wird deutlich, dass Grund- und Menschenrechte einen ständigen Dialog bewirken und brauchen. Und dass Demokratien diesen Dialog leisten können! Wo fängt (m)ein Grundrecht an, wo hört es auf? Dürfen Frauen über ihren eigenen Körper bestimmen – ist das ein Grundrecht? – oder begründen religiöse Regeln die Deutungshoheit? Welche Rechte überhaupt relevant sind, ist ein weiteres Für und Wider. Wer nie Gleichberechtigung erkämpfen musste, wer keine Empathie entwickelt hat, kümmert sich wahrscheinlich weniger um die Rechte anderer. Dennoch ist nicht alles Verhandlungsmasse.
Regeln sind Regeln
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen (1948) ist keine verbindliche Rechtsquelle des Völkerrechts, einige Artikel sind jedoch seit Mitte der 1960er und 1970er Jahre Bestandteil bindender internationaler Abkommen. Im Europarat (nicht zu verwechseln mit der EU) gibt es seit 1953 die Europäische Menschenrechtskonvention. Seit 1998 agiert der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als ständiges Gericht. Europäische Staaten haben Menschenrechte in ihren eigenen Verfassungen verankert und sich außerdem auf die EU-Grundrechtecharta geeinigt. Diese Charta ist seit 2009 rechtsbindend für die EU, alle EU-Organe und auch für die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung von EU-Recht. Der Einfluss der Charta wirkt weit in die Mitgliedstaaten hinein, da nationales Recht beträchtliche Bezüge zu EU-Recht aufweist.
Die EU und Menschenrechte: geht so
Flüchtende an den EU-Außengrenzen, drangsalierte Nichtregierungsorganisationen, zum Schweigen gebrachte Journalisten und viele mehr können ein trauriges Lied davon singen. Der Verweis auf viele Länder, wo alles noch schlimmer ist, tröstet wenig. Im Gegensatz zur Bevölkerung in autoritären Regimen, wo zivilgesellschaftliche Beteiligung nicht gewollt und Aktivismus drakonisch bestraft wird, können wir aber etwas unternehmen. Und viele machen es bereits, indem sie sich gegen Rassismus und für ein friedliches, diverses Zusammenleben einsetzen. Davon brauchen wir mehr, die Zeiten werden rauer!
Human Rights Watch sprach der EU im Januar 2023 ein konsequentes Bekenntnis zu Menschenrechten ab, ordnet diese Aussage aber auch in den aktuellen Kontext ein. „Die staatlichen Reaktionen auf Rassismus, Gewalt und Diskriminierung, von denen Frauen, ethnische und religiöse Minderheiten, LGBT-Personen und Menschen mit Behinderungen betroffen waren, waren oft unzureichend und verschärften in einigen Fällen die Menschenrechtsverletzungen. Die Covid-19-Pandemie förderte Diskriminierung und Hassverbrechen, darunter Hassreden im Internet, die sich gegen bestimmte gesellschaftliche Gruppen richten. Die EU-Grundrechteagentur und der Menschenrechtskommissar des Europarats erklärten, dass die EU-Länder gegen strukturelle Diskriminierung, einschließlich der Erstellung von ethnischen Profilen durch die Polizei, vorgehen sollten. Positiv zu vermerken ist, dass die Europäische Kommission eine Strategie für die Rechte von Menschen mit Behinderungen bis 2030 verabschiedet hat.”
Weltweit gibt es einen Negativtrend, die aktive Zivilgesellschaft wird eingeschränkt und Menschenrechte einkassiert. Laut „Oxfam Deutschland“ leben weltweit „etwa neun von zehn Menschen in Ländern, in denen zivilgesellschaftlicher Handlungsraum (Civic Space) in unterschiedlichem Maß eingeschränkt oder geschlossen ist“ und beruft sich dabei auf den Atlas der Zivilgesellschaft 2022 von Brot für die Welt / CIVICUS-Monitor.
Zivilgesellschaftlicher Einsatz hat immer wieder Grund- und Menschenrechte auf den Weg gebracht. Und auch 2022 werden Missstände durch diesen Einsatz aufgezeigt. In den USA werden Rechte zurückerobert werden und weltweit bauen junge Menschen Druck beim Thema Klimawandel auf, um neue und somit mehr Rechte für alle zu erringen. Es handelt sich um eine Wechselwirkung, denn starke Zivilgesellschaften helfen bei der Wahrung von Menschenrechten und umgekehrt.
In einer Demokratie gibt es eine Vielfalt an Meinungen, an Medien und politischen Parteien. Es macht einen großen Unterschied, ob man für einen stummen Protest mit einem leeren Blatt Papier oder für die bewaffnete Stürmung eines Parlamentsgebäudes verhaftet wird.
Vereinsmeierei als Chance
In der EU gibt es Grund genug, sich aktiv für eine gute Sache einzusetzen. Ja, es gibt viele Missstände. Und ja, wir können viel selbst in die Hand nehmen! Wir können uns alle sogar direkt und jeden Tag dafür einsetzen, dass wir friedlich in unserer Vielfalt zusammenleben. Als Menschenrechtsstadt inspiriert Barcelona andere Städte, wie die Partnerstadt Köln, zu mehr Einsatz. Jede Amtshandlung und jedes Telefonat kann Menschenrechte wahren, indem es beispielsweise frei von Diskriminierung bleibt oder wird (siehe https://initiative-menschenrechtsstadt-koeln.de/faq). Ist denn in Barcelona schon alles im grünen Bereich? Sicher nicht. Gerade deshalb sollten wir uns einbringen, kleine Verbesserungen im Zusammenleben auf den Weg bringen, für ein friedliches Zusammenleben sorgen, für eine saubere Umwelt oder digitale Rechte einstehen. Die Liste ist lang, warum nicht bei der Arrels Fundació in Barcelona anfragen, wie man Obdachlose unterstützen kann? Jeder Mensch hat das Recht auf angemessenen Wohnraum!
Zurück zur erwähnten Empathie, die man braucht, um für die Gleichberechtigung anderer und somit für mehr Rechte für alle einzustehen. Digitale Algorithmen und die (aktuelle) Pandemie haben ein Inseldasein gefördert, das uns mit Scheuklappen durchs Leben laufen lässt. Man lebt in der vielzitierten Blase der Gleichgesinnten ein immer individueller zugeschnittenes Leben. Wer feiert noch Dorf- und Nachbarschaftsfeste wie früher, auf denen man völlig fremde Leute kennenlernte? Menschen, die anders sind als wir. Diese Begegnungen sind wichtig, denn was kümmert uns das, was wir nicht kennen?
Gesellschaftliche Kontakte, eine aktive Zivilgesellschaft sind wesentlich für Menschenrechte. Die deutsche und übrigens auch die typisch katalanische Vereinsmeierei sollen hier nicht als Universallösung ins Rennen geschickt werden. Man mag Vereine oder man mag sie nicht. Auch individuell kann man sich einbringen und anderen helfen. Projekte mit völlig unterschiedlichen Menschen zu durchleben, mit Arm und Reich zu dinieren, Skateboard und Rollator unter einen Hut zu bringen … all das schafft Empathie. Gehen Sie raus, setzen Sie für etwas ein!
Die eingangs erwähnte Resolution des Europäischen Parlaments hat den Ball übrigens den EU-Mitgliedstaaten zugespielt, die sich nun der Sache annehmen sollen. Der Dialog geht also weiter!
Von Kolja Bienert, Juli 2022
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