Schreiben ist mein Leben
Interview mit dem Schriftsteller Jordi Sierra i Fabra
Am letzten Tag im Oktober fahre ich in die C/Johann Sebastian Bach, wo Jordi Sierra i Fabra seit fast 40 Jahren wohnt. Er ist im Sommer 75 geworden, veröffentlichte vor 50 Jahren sein erstes Buch und hat gerade im Palau Robert eine Ausstellung zu seinem Lebenswerk gehabt. Nach herzlicher Begrüßung zeigt er mir sein künstlerisches Reich: eine Plattensammlung von 30.000 LPs bedeckt die Wände, dazu ein riesiger Schrank voll mit 45er-Platten, daneben unzählige Fotos von ihm mit Künstlern der Popmusik. All das schafft ein Ambiente dichter Kreativität.
Ich möchte mit der Musik beginnen. Wie sind Sie auf die Idee gekommen, in der Straße von Johann Sebastian Bach zu leben?
Er lacht laut. Das ist ein Zufall. Als ich auf dem Bau arbeitete, wohnte in dieser Straße ein Architekt. Und immer, wenn ich hierher kam, sagte ich mir, dass diese Straße wunderschön ist. Nicht wegen des Namens, sondern wegen der Straße. Auf der Seite mit den ungeraden Zahlen befinden sich mehrere Gebäude, die mit dem FAD-Preis für Architektur ausgezeichnet wurden. Als wir „La música del rock“ in Raten veröffentlichten, war der Verlag gegenüber. Als ich eines Tages dort war, sah ich, dass hier „Se vende piso” (Wohnung zu verkaufen) stand. Eine Metzgerin aus der Nachbarschaft, die Witwe geworden war, wollte ihre Wohnung wechseln und hat mir ihre Wohnung zu einem sehr günstigen Preis überlassen. Ich sagte zu ihr, um sie zu überzeugen: „Ich kann dir nicht viel bezahlen, aber dort, wo du früher mit deinem Mann geschlafen hast, werde ich jetzt Kunst schaffen”. Das hat sie überzeugt und ich habe geackert, um das Geld zu verdienen.
Sie haben Literatur und Musik gemacht. Wie ist die Beziehung zwischen beiden?
Ich bin zur Musik gekommen, um berühmt zu werden und Bücher zu veröffentlichen. Nach der Schule begann ich auf dem Bau zu arbeiten und nachts zu studieren. Als ich ein Kind war, lieh ich mir gebrauchte Bücher aus, weil ich sie mir nicht kaufen konnte. Als ich die Beatles hörte, fing ich an, mich für Musik zu interessieren, aber man konnte die Platten nicht ausleihen, sondern musste sie kaufen. Jeden Tag bin ich zu Fuß zur Arbeit und zur Schule gelaufen – 12 km – und weil ich beim Bus und bei der U-Bahn gespart habe, konnte ich jede Woche eine LP kaufen. Jede Woche gab es 10 neue, die mir gefielen, und ich konnte nur eine kaufen. Um eine auszuwählen, habe ich sie mir alle im Laden angehört. Als ich diese Platten hörte, blieb alles in meinem Kopf hängen. Ich habe auch Englisch gelernt, indem ich Lieder gelesen habe. Ich lernte so eine Menge über Musik. Als Künstler hatte ich schon diese kleine Ader, um zu erahnen, ob eine Platte gut oder schlecht ist. Ich habe mir gesagt: Was kann ich besser als die anderen? Schreiben. Worüber weiß ich mehr als andere? Über Musik. Also habe ich über Musik geschrieben. Mehr als zwei Jahre lang habe ich jede Woche sehr lange Briefe über Musik an die Sendung El Gran Musical in Madrid geschickt. Als die Zeitschrift El Musical gegründet wurde, gelang es mir, zum Korrespondenten in Barcelona ernannt zu werden. In nur einem Jahr ist mein Name bekannt geworden. Dann kam „Disco Exprés”, der Wettbewerber, und machte mich zu seinem Direktor. Im Alter von 22 Jahren hörte ich also auf zu arbeiten und zu studieren. Das war der Anfang. Mein erstes Buch – vor 50 Jahren – handelte von der Geschichte der Popmusik. Nach ein paar Jahren hörte ich auf, über Musik zu schreiben, und begann, Romane zu verfassen, weil ich Geschichten erzählen wollte. Ich habe das alles aufgegeben, weil ich die Welt sehen und reisen wollte. Meine Frau sagte immer zu mir: „Wir werden schon irgendwie essen”, obwohl wir zwei kleine Kinder hatten. Das hat uns zusammengeschweißt. Wir sind seit 53 Jahren zusammen. Er lächelt.
War der Anfang unter der Diktatur schwierig?
In London habe ich mich auf eine bestimmte Art und Weise gekleidet und kam gut an. Aber hier war ich ein Außenseiter. Mit langen Haaren. Andersdenkende wurden vom TOP, dem Tribunal de Orden Público, dem Gericht für öffentliche Ordnung, festgenommen. Und als ich 20 Jahre alt war, hatten sie mich auf dem Kieker, weil ich in einer Untergrundzeitschrift geschrieben habe. Über Musik. Selbst wenn man über Musik schrieb, konnte man nicht die Wahrheit sagen. Mein erstes Buch kam 1972 heraus, als Franco noch lebte. Als ich meinen ersten Literaturpreis für mein zweites Buch erhielt, war Franco schon tot. Ich bin Katalane, und es hat lange gedauert, bis ich meinen Namen in Madrid mit einem lateinischen “i” schreiben konnte. Als ich die Musik ad acta legte, hatte die Demokratie schon fast begonnen. Ich hatte also keine Probleme mit Romanen.
Sie haben fast 500 Bücher geschrieben.
Nein, fast 600, genauer gesagt, 580 veröffentlicht unter meinem Namen. Wenn wir alles mitzählen, was ich unter einem Pseudonym geschrieben habe, als ich freiberuflich tätig war, sind es noch 40 weitere Bücher. Darüber hinaus habe ich in meiner Zeit als Musiker Tausende von Artikeln geschrieben. Ich schreibe sehr schnell. Superschnell. Ich habe eine Basiskultur. Ich erinnere mich: Einmal stürzte ein Flugzeug auf der Insel Kamtschatka ab. Jemand von einer Zeitschrift rief mich an: Jordi, weißt du etwas über Kamtschatka? Natürlich, sagte ich, es gibt dort den russischen Marinestützpunkt. Er sagte: „Das ist es, schreib einen Artikel! Drei Seiten in einer Stunde. Ein Typ wie ich mit guter Kultur und schnellem Schreiben, ich habe als Freiberufler berechnet, was ich wollte. Ich habe nur meine Bücher signiert. Ich habe nichts im Auftrag unterschrieben. Es war ein Job, ich habe ihn gemacht, ganz einfach. Meine Bücher sind meine Bücher. Sie gehören mir.
Sie haben ein Gespür für das Schreiben, aber warum schreiben Sie?
Schreiben ist meine Leidenschaft. Ich bin zum Schreiben geboren. Als Kind stotterte ich. Aufgewachsen in einer bescheidenen Familie, mein Vater hatte 3 Jobs, es war die Nachkriegszeit. Eines Tages hatte ich einen sehr schweren Unfall, ich stolperte durch ein Glasfenster. Als ich mich im Krankenhaus erholte, stellte ich fest, dass ich beim Schreiben nicht stotterte. Und ich habe es sehr schnell gemacht. Niemand konnte mich mehr aufhalten.
Ich kann wochenlang über ein Buch nachdenken. Aber wenn ich den roten Faden habe, fange ich an zu schreiben. Ich schreibe auch heute noch mit der Hand. Ich bin sehr gut organisiert. Auf der ersten Seite trage ich ein, was ich pro Tag schreibe. Ich höre nie auf zu schreiben, wenn ich ein Buch beginne. Ich mache das immer alles nacheinander. Ich schreibe Bücher in 6 Tagen. Er zeigt mir verschiedene A5-große Handschriften in winziger, sehr deutlicher Handschrift, mit einer Agenda, in der die Anzahl der pro Tag geschriebenen Seiten angegeben sind. Was hier nicht erwähnt wird, sind die wochenlangen Recherchen zu diesem Thema. Dies wird niemals als Zeit gezählt. Ich schreibe nicht mehr als 3 Monate im Jahr, der Rest ist Denken.
Welches dieser Bücher repräsentiert Sie am meisten?
Schreiben ist mein Leben. Wenn eins fertig ist, ist es wie ein Kind, es hat ein Eigenleben. Als ich „Campo de fresas” schrieb, hätte ich nie gedacht, dass ich fast eine dreiviertel Million Exemplare dieses Buches verkaufen würde. Es war nur ein weiteres Buch, das aber plötzlich, wie eine Bombe einschlug. Als ich „Kafka und die reisende Puppe” schrieb, gewann es einen nationalen Preis und wurde in Theatern in der ganzen Welt aufgeführt. Ich konnte nicht ahnen, dass es überall auf der Welt so viel Anklang finden würde. „Las palabras heridas” ist für mich ein Wunderwerk, aber es gab nur eine einzige Auflage. Ich sehe, dass meine Jugendbücher nicht aus der Mode kommen, sie werden immer noch veröffentlicht. Sie halten 25-30 Jahre.
Gibt es einen Zusammenhang zwischen Lesen und Schreiben?
Ich lese sehr viel. Jeden Tag eine Stunde lang. Mein Leben ist sehr methodisch. Ich stehe um 10 Uhr auf. Ich frühstücke und checke meine E-Mails. Ich schreibe von 11 Uhr morgens bis fast 15 Uhr. Nach dem Mittagessen lese ich Zeitung und den Roman, den ich gerade lese. Ich schreibe weitere 4 Stunden bis 20.30 Uhr. Ich esse zu Abend und gehe ins Kino. Jede Nacht. Jetzt gibt es nicht mehr so viele Filme, also schaue ich 1 oder 2 Videos. Ich gehe immer ins Kino, wenn es möglich ist, aber das Angebot hat sich verringert. Im Sommer schreibe ich nur 5 Stunden. Wenn ich reise, schreibe ich nicht, weil der Tag immer anders ist. Ich brauche eine Struktur.
Die jungen Leute, für die Sie schreiben, sind erwachsen geworden. Schreiben sie?
Ich schreibe von jungen Menschen, nicht für junge Menschen. Ich weiß nicht, wer mich lesen wird. Ich habe den ganzen Tag mit jungen Menschen zu tun. Bei der Stiftung. Sie erzählen mir Geschichten. In meinen Texten wird nie moralisiert, ich gebe keine Belehrungen. Ich verkaufe ihnen keine Motorräder. Ich bin ein Schriftsteller. Ich bin ein Geschichtenerzähler.
Sind aus den jungen Leuten große Schriftsteller hervorgegangen?
Ja, der erste Preisträger der Stiftung Sierra i Fabra, dem der Preis vor 18 Jahren verliehen wurde, hat bereits 10 oder 12 Bücher veröffentlicht. Die zweite Preisträgerin hat 3 wichtige Preise gewonnen. Die dritte hat bereits 14 Bücher veröffentlicht. Sie haben den Mut, Bücher zu schreiben.
Mercé Rodoreda, Almudena Grandes oder Maruja Torres: Welches ihrer Bücher würden Sie wählen?
Maruja, ich nehme an, weil sie eine Freundin von mir ist. Ich kenne sie sehr gut, Maruja Torres hat sogar für mich geschrieben. Sie war eine großartige Journalistin. Sie schrieb sehr gute Artikel. Sie lebte sehr verrückt, wie eine Bohème. Eines Tages sagte ich zu ihr: Maruja, du musst einen Roman schreiben, du bist eine Romanautorin, du erzählst Geschichten! Sie wollte erst nicht, aber ich habe sie überzeugt. Im Jahr ’98 veröffentlichte sie „Oh, es él!”. Almudena ist zu dicht für mich. Ich mag Bücher mit Dialogen, nicht so sehr die Erzählung. Einer meiner Leitsprüche lautet: Was zwei Figuren im Dialog erzählen können, wird nicht vom größten Erzähler erzählt. Ich kann „Rayuela” von Cortázar nicht lesen. 30 Seiten ohne Punkt und Komma. Das erschöpft mich.
In der Europäischen Union herrscht Reisefreizügigkeit, zirkulieren auch Bücher?
Ja, ich bin ein Autor, der in viele Sprachen übersetzt wurde. Aber in Deutschland habe ich nur 4 oder 5 Bücher. In China und Korea sind es wesentlich mehr. 3,4 in der Türkei, 4,5 in Russland, 3,4 in Griechenland, in England nichts. Die Engländer wollen nichts von den Spaniern wissen. Die Engländer sagen: „We sell, we don’t buy.“ Dabei behandele ich jedes Thema, ob national oder international und habe darüber geschrieben, was in der Welt ansteht, sei es über Kindersklaven, Kinder- oder Organhandel.
Europa befindet sich durch den Krieg in der Ukraine in einer Krise. Was denken Sie darüber?
Heute hatte ich eine Diskussion mit Freunden im Internet. Die Ukraine ist nicht neu. Wir kommen von dort, wo wir herkommen. Einer von ihnen sagte: „Die Globalisierung ist der größte Fehler der Menschheit. Ich habe geantwortet: Erinnert ihr euch, wer damals gesagt hat: Globalisierung ist Völkermord an der Kultur!“ Das war ich! Es gibt viele Dinge, über die man reden kann. Wer dominiert warum? Was passiert mit der Ukraine? Die Ukraineproblematik liegt darin, dass Russland vor 8 Jahren die Krim einnehmen konnte. Was jetzt geschieht, ist immer eine Folge von dem, was zuvor falsch gemacht wurde. Ich bin Pazifist. Was kann ich tun? Wir haben auch hier zugelassen, dass alles beschönigt wird. 80 Jahre nach dem Bürgerkrieg gibt es Straßen mit franquistischen Namen. Das historische Gedächtnis ist immer noch in der Diskussion.
Was sind Ihre Projekte für die nächsten 50 Jahre?
Er lacht. Schreiben, schreiben, schreiben. Und wieder zu reisen. Es ist normal, dass ich mit 75 besser schreibe als mit 50. Je älter man wird, desto intelligenter ist man, aber man hat eine andere Wahrnehmung der Dinge und ist reifer.
Vielen Dank, Jordi Sierra i Fabra, für das Interview
Ina Laiadhi, Oktober 2022
Infos
https://fundaciosierraifabra.org/jordi-sierra-i-fabra/
Premios Fundación Jordi Sierra i Fabra
https://fundaciosierraifabra.org/premio-jordi-sierra-i-fabra/
Schlagwörter: Biografisches, Literatur