La España vacía von Sergio del Molino
Auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse 2022 präsentierte das Gastland Spanien das vor kurzem ins Deutsche übersetzte Buch La España vacía von Sergio del Molino. Der Autor hatte im November 2021 ei-gens ein Vorwort zur deutschen Ausgabe „Leeres Spanien“ verfasst. Der gewagte Zusatz „Reise in ein Land, das es nie gab“ ist ein Ideenkonstrukt mit der Absicht, die Aufmerksamkeit der Leserschaft fern der Städte auf das langsame Aussterben des ländlichen Lebens in Spanien zu lenken. Tatsächlich erfuhr der Essay die gewünschte Resonanz in der deutschen Presse: Spiegel und FAZ widmeten dem Thema und Autor ausführliche Artikel.
Stets weckt Spanien – eines der beliebtesten Reiseländer des Südens – bildhafte Assoziationen von Urlaubstimmung, ewi-gem Sonnenschein, blauem Meer, malerischen Felsbuchten und hellen oder schwarzen Sandstränden (Kanarische In-seln). Spanien ist ein kontrastreiches Land: abgesehen von den Badestränden ist auch die über 400 km lange Bergkette der zerklüfteten Pyrenäen als natürliche Grenze zu Frank-reich und dem Norden Europas vielen Spanienreisenden bekannt. Die großen Städte Madrid und Barcelona sind viel-besuchte historische, kulturelle und architektonische Touris-tenziele.
Lange zuvor hatte sich kaum jemand Gedanken darüber ge-macht, dass der flächenmäßig größte Teil Spaniens aus schier endlosen unbewohnten Landstrichen besteht. Die Weite Extremaduras, die wüstenähnliche schroffe Trockenheit Almerías – Kulissen zahlreicher Wildwestfilme – das Meer von Olivenhainen im nordandalusischen Jaen, die flachen Felder der Mancha – Heimat von Cervantes Don Quijote -, oder die wellenartigen Berge der Monegros in Aragonien bereiste der Journalist Sergio del Molino jahrelang. In entvöl-kerten Gegenden sprach er mit den einzigen, oftmals betag-ten Bewohnern von halbverlassenen Dörfern. Als Reporter und Journalist der Zeitungen „Heraldo de Aragon“ und „El País“ schrieb er zahlreiche Reportagen über seine Beobach-tungen.
Der Blick des Autors wendet sich ab von den großen Städten Spaniens wie Madrid, Barcelona, Zaragoza, Valencia, den dicht besiedelten Küstenorten und schweift über die halb-verfallenen Dörfer im Landesinnern. 2016 erschien die erste Auflage dieser tiefschürfenden, unterhaltsamen und äußerst spannend erzählten Kulturgeschichte Spaniens, in der ge-schichtliche, gesellschaftliche, kulturelle, politische und wirt-schaftliche Vergleiche zu vielen anderen Ländern gezogen werden. Das extreme Ungleichgewicht zwischen Stadt und Land, die über Jahrhunderte praktizierte Bevorzugung der Städteentwicklung wird der Leserschaft vor Augen geführt, über die politische, historische und literarische Analyse der spanischen Missverhältnisse. Auf 300 Seiten lässt uns der Autor in amüsantem Ton teilhaben an den tiefgreifenden Studien, Erlebnissen und Gedanken über sein Land.
Reisende des 19. Jahrhunderts – eines der beschriebenen Mythen – erkundeten Spanien in Erwartung einer fremden Wildheit von Natur und Bewohnern. Don Quijote geistert im Kampf gegen die Mühlen auf den Feldern der menschenlee-ren Mancha und spanische Intellektuelle begeben sich nach dem Verlust der letzten spanischen Kolonie des Weltreichs in die herbe kastilische Landschaft auf der Suche nach dem Sinn des Lebens.
Scheitern musste ein wirtschaftliches Belebungsprojekt, die geschichtliche Vergangenheit des keltischen Iberien (Celtibe-ria) zur Touristenroute mit Paralellen zu Frankreich und Großbritannien auszubauen, um dem großen Trauma des ländlichen Exodus der 1950er Jahre in die spanischen Städte entgegen zu steuern. Andererseits ist das entleerte Spanien als „Land im Land“ historisch schon immer eine spanische Lebensform gewesen, jedoch aktuell zur trostlosen Tatsache geworden.
Nach dem Aufspüren von politischen Ursachen der Leere – Francos Modernisierungswahn der 1950er und 1960er Jah-re, in denen ganze Dörfer unter den Fluten der Staudämme versanken, mit der Folge ausufernder Städte und ausster-bender Landbevölkerung – führt uns del Molino auf seinem ausgiebigen Spaziergang durch die spanische und internatio-nale Literatur zur romantischen Lyrik eines Gustavo Bec-quer, über Heine zu Théophile Gautier, Victor Hugo, Mérimée (Carmen!), Alfred de Musset, bis zu den Brüdern Grimm, um nur einige davon zu erwähnen. Die Romane von Miguel de Unamuno, Camilo José Cela, Julio Llamazares, Antonio Muñoz Molina oder Miguel Delibes werden eingehend besprochen. Den spanischen Schriftstellern war es von jeher ein Bedürfnis, das ländliche Bewusstsein wach zu halten, das in den meisten Spaniern als Kindheitserinnerung fest verankert ist. So ist oft ist bei Ferienbeginn „me voy al pu-eblo“ zu hören, denn viele Stadtbewohner Spaniens verbringen ihren sommerlichen Urlaub im Dorf der Großeltern oder bei Verwandten.
Weiterhin werden Filme mit internationaler Besetzung oder von berühmten spanischen Regisseuren genannt. Luis Buñuels 1933 gedrehter Film „Las Hurdes – Land ohne Brot“ über ein elendes verarmtes Dorf in Extremadura sollte in typisierten Bil-dern übertriebene Klischees vom ländlichen Leben in einer dokumentarischen Fiktion aufdecken. Del Molinos Buch hat seit 2016 ein unvorstellbares Echo in Spanien hervorgerufen. Das leere Spanien wurde über Nacht ein Schlagwort in aller Munde. Politik, Wirtschaft, und soziale Medien interessierten sich plötzlich für das Thema in Parlamentsdebatten, Fernsehdokumentati-onen, Buchveröffentlichungen, Zeitungen, etc. Zwischen 2019 und 2022 wappneten sich zwei neue Parteien gegen das ent-leerte Spanien: „Teruel existe“ und „Aragon existe“. Weithin – auch im Ausland – gilt das Buch über die Landflucht in Spanien als neu entdecktes Phänomen. Der Autor berichtet im deutschen Vorwort, dass Le Monde, New York Times und der BBC ihn inter-viewten, um ihre Leser auf das unbekannte, faszinierende Landesinnere Spaniens hinzuweisen.
Rein persönlich finde ich La España vacia-Leeres Spanien eines der spannendsten und lehrreichsten Sachbücher der letzten Jahre. Seit Jugendzeiten lebe ich in Spanien, zuerst in der katalanischen Provinz und nun in Barcelona, kenne das Dorf-, Klein- und Großstadtleben, habe spanische Provinzen bereist und schöpfe dennoch unglaublich viel Neues und Überraschendes aus diesem Buch, das ich zugleich in spanischer und deutscher Fassung lese. Daher meine beste Empfehlung: Wer das Land Spani-en in seiner ureigenen Identität, sowie kulturellen und sprachlichen Vielfalt begreifen will, sollte Leeres Spanien unbedingt le-sen.
© Wagenbach Verlag, Sergio del Molino: „Leeres Spanien. Reise in ein Land, das es nie gab.“
Von Dr. phil. Evelyn Patz-Sievers, Dezember 2022
Schlagwörter: Literatur, Moderne Welt