Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum
(Zitat von Friedrich Nietzsche)
Traditionell gibt’s an Weihnachten – und vor allem in der Zeit davor – in den Fußgängerzonen, auf den Weihnachtsmärkten, in den Kaufhäusern und Einkaufsparadiesen von klingenden Glöckchen, schmetternden Tenören und Kinderchören aus krächzenden Lautsprechern schwer was auf die Ohren – als sei es nicht genug, dass man mit dem ganzen Einkaufs- und Vorbereitungsstress schon heftig was um die Ohren hat. Gern erinnere ich mich in diesem Zusammenhang an die wunderbare Szene aus einer Weihnachtsfolge von „AKTE X“, wo uns Agent Scully – gerade aus dem weihnachtlich dröhnenden Einkaufszentrum geflüchtet – begrüßt mit den Worten: “ Wenn die noch einmal „Stille Nacht“ gespielt hätten, hätte ich Geiseln genommen.“ Wahrscheinlich war der Drehbuchautor weihnachtsgeschädigt und/ oder kannte seinen Wilhelm Busch. Dass es auch anders geht, beweist die folgende Auswahl, bei der hoffentlich für jeden etwas dabei ist.
Leonard Cohen – Die Flamme
Vor zwei Jahren starb mit Leonard Cohen einer der einflussreichsten Sänger, Dichter und Komponist der 60er und 70er Jahre. In einem seiner letzten Interviews erklärte er, vor dem Tod keine Angst zu haben, nur wolle er noch eben so viel Zeit haben, dass er sein letztes Werk zu Ende bringen könne. Der Wunsch wurde ihm erfüllt – und so ist gerade mit „Die Flamme“ – einer Sammlung von unveröffentlichten Gedichten, Texten, Tagebuchaufzeichnung und graphische Kleinigkeiten – jetzt sein künstlerisches Vermächtnis erschienen. Die Gedichte sind sehr gelungen übersetzt und zweisprachig abgedruckt, die
Sammlung ist in ihrer Tiefe beeindruckend und fasst alle Komponenten zusammen, die das Oeuvre von Cohen auszeichneten.
Julian Barnes – Der Lärm der Zeit
Die Epoche der Herrschaft Stalins war vor allem für Künstler und Intellektuelle eine Zeit der Bedrohung und der Gefahr. Einer der Komponisten, die am meisten zu leiden hatte, war Schostakovich. Nachdem der Machthaber demonstrativ vorzeitig die Uraufführung einer Oper des Komponisten verlässt, gerät dessen Leben aus den Fugen. Er lebt in ständiger Angst davor, abgeholt und deportiert zu werden und wartet monatelang Abend für Abend mit gepacktem Koffer im Treppenhaus auf die Häscher in der verzweifelten Hoffnung, so wenigstens seine Familie schützen zu können. Überraschenderweise wir er später quasi begnadigt und zu einem Musikkongress nach New York geschickt, wo er systemtreu die musikalische Linie zu vertreten hat und im Zuge dessen den von ihm verehrten Strawinsky zu verteufeln hat. Nach dem Ableben Stalins steigt er zu ungeahntem Ruhm auf und genießt plötzlich Privilegien. Barnes‘ Roman lotet auf geschickte Weise aus, wo die feinen Trennlinien zwischen Angst und Mut, Feigheit und Heldentum, Konformität und Aufbegehren verlaufen.
Frank Goosen – So viel Zeit
Konni, Bulle, Rainer und Thomas haben zusammen Abitur gemacht, sind in den Vierzigern und vom Leben gebeutelt. Von den großen Rosinen der Jugendzeit ist nichts übriggeblieben – bis sie nach einer alkoholischen Nacht beschließen, doch noch einen ihrer großen Pläne von damals zu verwirklichen: zum 25sten Abiturjubiläum wollen sie endlich mit der Rockband performen, von der sie schon als Jugendliche geträumt hatten. Frank Goosen schreibt eine wunderschöne Geschichte von Träumen und dem Leben, vom Älterwerden und der Midlife-Crisis, von der Erinnerung und der guten alten Zeit. Gerade wurde die Geschichte mit Staraufgebot (Jürgen Vogel, Jan Josef Liefers, Richie Müller, Armin Rohde, Mathias Bundschuh) als Film adaptiert und läuft ab Ende November im Kino.
Hanns-Josef Ortheil – Die Erfindung des Lebens
Auch wenn ich mich für einige mittlerweile anhören mag wie eine alte Platte mit einem Sprung (!), so werde ich doch nicht müde, dieses Buch zu loben und zu empfehlen, da mich kaum ein anderes in den letzten Jahren so beeindruckt hat. Ortheil erzählt autobiographisch von seiner Kindheit in Köln und im Westerwald, von traumatischen Kriegserfahrungen und seiner sprachlichen Entwicklungsstörung und von der Eroberung der Welt durch das Wort und die Musik als die Faktoren, die sein Leben bestimmen. Tiefgründig und bewegend – wer’s immer noch nicht gelesen, sollte es endlich tun.
Von Rainer Lorson, 2018
Schlagwörter: Kultur