Vor 165 Jahren freigesprochen
Emma Bovary
Am 29. Januar 1857 begann vor dem Pariser Strafgericht der Prozess um Gustave Flauberts Roman „Emma Bovary. Ein Sittenbild aus der Provinz“ wegen seines vorgeblich unmoralischen und sittenwidrigen Inhalts. Der Text sei lasziv und subversiv, und er habe eine schlechte Wirkung auf unschuldige Mädchen und Frauen.
Als Kernproblem des Romans identifizierte der Staatsanwalt damals die Frage, ob Emma eine gute Frau und Mutter sei, und er beantwortete sie selbst: „Emma Bovary“ sei die Geschichte der Ehebrüche einer Provinzlerin, die durch Romanlektüren, erotische Fantasien und berauschende Walzertänze zur Aufgabe ihrer familiären Pflichten verleitet wurde.
In der Tat entwickelt Emma schon als junge Frau ein unstillbares Verlangen nach einem Leben voller romantischer Affären; es ist daher unvermeidlich, dass sie an der Differenz zwischen ihren Illusionen und der Realität zerbricht. Ihr Ehemann Charles, ein fleißiger, aber biederer Landarzt, entspricht nicht Emmas Erwartungen und Liebesfantasien, er ist nicht der heldenhafte Prinz, den sie sich immer gewünscht hat.
Das Fehlen einer leidenschaftlichen Paarbeziehung in der Ehe versetzt Emma in einen Zustand emotionaler Unzufriedenheit, der sich psychosomatisch in einem Nervenleiden niederschlägt. Dieses Phänomen hat inzwischen unter dem Namen Bovarismus in die Psychologie Eingang gefunden. Der siebte Himmel, in dem Emma mit ihren Geliebten schwebt, aber auch ihre Frustrationen, wenn diese sie verlassen, treiben Emma immer wieder dazu an, viel Geld für Luxusgüter – Kleider, Schmuck, Geschenke – auszugeben, Geld ihres Mannes natürlich, den sie dadurch in den Ruin treibt. Schließlich nimmt sie sich mit Arsen das Leben.
Nach ihrem Tod ist Charles verzweifelt und insolvent. Er und die gemeinsame Tochter Berthe verbringen den Rest ihres Lebens in Armut, das Mädchen muss schließlich sogar in einer Baumwollspinnerei arbeiten. Beide bezahlen also mit ihrem gesellschaftlichen Abstieg das erotische Begehren und den Realitätsverlust Emmas.
Flaubert wurde 1857 freigesprochen, weil sein Anwalt den Schriftsteller als ernsthaftes Arbeitstier darstellte, der durch Disziplin und Ausdauer ein moralisches Werk geschaffen habe, denn keineswegs werde Emma Bovary als Vorbild dargestellt. Vielmehr leide sie unter ihren Verfehlungen und ihre Familie bezahle ihre Extravaganzen mit dem Ruin.
Letztlich war der Prozess vor dem Pariser Gericht die beste Reklame für den Roman, der vorher schon in einer Zeitschrift in zensierter Form erschienen war. Denn der Staatsanwalt hatte bei seiner Beweisführung viele der kritisierten Textausschnitte vorgelesen und so das Publikum erst mit den heiklen Szenen bekannt gemacht. Epochemachend war allerdings Flauberts Kommentar zum Urteil des Gerichts: „Kunst darf nicht auf der Ebene der Moral bewertet werden, sondern nur nach ästhetischen Kriterien.“
Von Katharina Städtler, Februar 2022
Schlagwörter: Frauen