Der Chemin Walter Benjamin
Auf den Spuren Walter Benjamins und Lisa Fittkos über die Pyrenäen
Nach der offiziellen Einweihung des Chemin/Camins Walter Benjamin von Banyuls/Frankreich über die Pyrenäen nach Portbou/Katalonien im Jahr 2007 ist das Interesse am Leben eines der bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts gewachsen. Jedoch interessieren sich die meisten Menschen in Spanien weniger für Benjamins philosophisches Werk und sind eher von seinen umstrittenen Todesumständen angezogen, beklagt der Direktor des Exilmuseums La Jonquera.
Walter Benjamin war schon wenige Monate nach der nationalsozialistischen Machtergreifung vor der drohenden Verfolgung des totalitären Regimes ins Exil geflohen. Am 20. März 1933 bezog er zunächst ein bescheidenes Zimmer im Hotel Istria in der Rue Campagne Première, Paris. Verschiedene Unterkünfte in Paris und Stationen, auf Ibiza, in Dänemark (bei Brecht) folgten. Die Gestapo in Berlin war über seinen Aufenthalt und sein Wirken in Paris informiert. Das weitverzweigte Spitzelnetz der Geheimen Staatspolizei funktionierte bestens. Durch den Verlust der deutschen Staatsbürgerschaft am 23. Februar 1939 – im Auftrag der Gestapo – war Walter wie Tausende seiner jüdischen Schicksalsgenossen zum staatenlosen Exilanten degradiert (vgl. Ingrid Scheurmann).
Uns ist Benjamin bekannt durch die Lektüre seiner Kindheitserinnerungen an Berlin, einiger seiner Essays (u.a. über die technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerks, über die
Passagen von Baudelaire) und durch seine Freundschaft zu Bertolt Brecht, Franz Hessel, Theodor Adorno und anderen Intellektuellen seiner Zeit. Lisa Fittkos Erinnerungen „Mein Weg über die Pyrenäen“ bringt uns den Menschen Benjamin auf seinem letzten Lebenspfad nahe. Die Widerstandskämpferin Lisa Fittko hatte als ersten den „alten Benjamin“ und danach mehrere Monate lang – in Begleitung ihres Mannes Hans Fittko – viele andere Flüchtlinge aus dem besetzten Frankreich ins neutrale Spanien geleitet. In Portbou hatten sich die Exilanten bei den Behörden zu melden und konnten sich anhand eines Transitvisums durch Spanien in Lissabon zur Überfahrt in die USA einschiffen.
Was mochte Benjamin dazu getrieben haben, nach geglückter Überquerung der französischen Grenze, in einem schäbigen kleinen Hotel im spanischen Grenzort Portbou, freiwillig aus dem Leben zu scheiden, knapp fünfzig Jahre alt? War es der beschwerliche Weg über die Berge, die physische Erschöpfung, seine Herzinsuffizienz? Die fatale Nachricht der spanischen Grenzpolizei am Bahnhof Portbou, er habe keine französische Ausreiseerlaubnis, müsse zurück nach Frankreich und dürfe nur noch die Nacht in Portbou unter polizeilicher Aufsicht verbringen, nahm ihm wohl das letzte Fünkchen Lebensmut. Andererseits…
Hatte er nicht andererseits die Zukunftsaussicht, in Amerika als Exilant, in Freiheit weiterdenken und schreiben zu können, unterstützt von Horkheimer und Adorno? Vielleicht war er einfach ermüdet vom Lebenskampf im Exil, wie Bertolt Brecht in dem Epigramm «Die Verlustliste» meint:
So auch verließ mich der Widersprecher
Vieles Wissende, neues Suchende
WALTER BENJAMIN. An der unübertretbaren Grenze
Müde der Verfolgung, legte er sich nieder.
Nicht mehr aus dem Schlaf erwachte er. (Brecht, Werke, Bd. 15, S. 43)
Die Transitbestimmungen änderten sich damals täglich. Zwei Tage später hätte Benjamin problemlos durch Spanien nach Lissabon gelangen können, wie uns Teresa vom Touristenbüro Portbou in der Gemeindebibliothek zu den dort ausgestellten Dokumenten über Benjamins letzte Lebensstation erklärt.
Den widersprüchlichen Empfindungen Walter Benjamins bei der Grenzüberquerung über die Berge, die Hunderttausenden von anderen anonymen Exilanten gelang, wollen wir nachspüren. Die ehemalige Route Lister wollen wir selbst erwandern, notfalls auch allein. Wir planen den Weg anhand einer Landkarte und Lisa Fittkos Buch. Eine unerwartete Fügung macht unseren Plan zu einem unvergesslichen Erlebnis.
Im Jahr 2013 war zum 73. Todestag Walter Benjamins (26. September 1940) am Sonntag, den 29. September, eine Wanderung von Banyuls nach Portbou geplant. Diese Tour wird alljährlich vom Touristenbüro Portbou organisiert, von erfahrenen Bergführern begleitet und mit Kommentaren und musikalischen Einlagen ausgeschmückt. Auf einem Plateau nach der ehemaligen Grenze Frankreich-Spanien steht kurz vor dem Abstieg nach Portbou wandermüden Personen ein Geländewagen zur Verfügung. Für diese Variante der Wegverkürzung würden wir im Nachhinein dankbar sein.
Die riesige Bahnhofshalle, heute fast menschenleer, entworfen und erbaut vom Architekten Joan Torras i Guardiola (1929) unter dem Einfluss von Gustave Eiffel, wird von einem wuchtigen Glasdach innerhalb zahlreicher Stahlbögen getragen. An dem ehemaligen Familienbetrieb Hotel Francia laufen wir zweimal vorbei. Erst nach erneuter Suche stehen wir vor einem schmalen renovierten und rotangestrichenen Privathaus mit schmiedeeisernen Balkons. Hier entdecken wir eine kleine Erinnerungstafel mit der katalanischen und spanischen Aufschrift „Hier starb der deutsche Philosoph Walter Benjamin“ neben einer eingemeißelten symbolischen Brille, was auf die frühere Funktion des Hauses als einfaches Hotel und die letzte Ruhestätte Walter Benjamins hinweist.Zunächst erkunden wir Walter Benjamins Weg durch Portbou. Die Einwohnerzahl dieses Grenzstädtchens soll in den vergangenen Jahren bis auf ca. 1.350 Personen geschrumpft sein. Wegweiser und mehrsprachige Erinnerungspfeiler weisen auf den letzten Lebenstag des illustren Gastes hin, der dort seinerzeit ein Unbekannter war.
Der Weg zum terrassenförmigen städtischen Friedhof Portbous führt an der Strandpromenade hinauf entlang der Felsenküste. Die schlichte Grabstätte Benjamins ist nicht original – Benjamin wurde zunächst in einem der Nischengräber bestattet – und liegt im oberen Teil des Friedhofs zu ebener Erde, mit Blumen geschmückt und nach jüdischem Brauch mit einfachen Kieselsteinen belegt. Ein Pressefoto aus dem Jahr 1992 zeigt den ehemaligen deutschen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker mit einem Strauß Blumen an der Frontseite des Grabes.
Das beeindruckende, vom israelischen Künstler Danny Karavan entworfene Benjamin-Memorial „Passagen“ vor dem Friedhof deutet metaphorisch Walter Benjamins Leben und Werk. Wie eine schmale Schlucht führen die auf beiden Seiten von dunkelbraunen Eisenwänden gesäumten Stufen steil hinab ins Meer und werden von einer Plexiglasscheibe abgeschlossen, die einerseits als (Lebens-)Begrenzung und andererseits – durch ihre Transparenz − als grenzenloses Alles aufgefasst werden kann. Hierin wird der Beschauer – einer Fata Morgana ähnlich – auf den Treppenstufen schwebend widergespiegelt und vom Blau und der weißen Gischt der Meereswellen umspült. Eine erstaunliche Symbiose von Kunstwerk und Natur!
Am nächsten Morgen brechen wir früh um 8 Uhr in Portbou auf. Wir gesellen uns zu den 77 Teilnehmern der Wandertour, die in zwei Bussen die Fahrt nach Banyuls antreten. Auf der serpentinenartigen Küstenstraße bietet sich ein malerischer Blick über die schroff ins Meer fallenden Klippen. Lisa Fittko erinnert sich: „−Auf dem Papier sieht es wie ein leichter Spaziergang aus−, hatte ich [Lisa Fittko] zu ihm [dem Bürgermeister Azéma von Banyuls] gesagt, −aber es scheint, daß wir diese hohen Gipfel der Pyrenäen übersteigen müssen−. Er hatte gelacht: −Dort liegt Spanien, auf der anderen Seite der Berge−.“ (Fittko, S. 132)
Am Ortsrand von Banyuls breiten sich die Hänge der Weinberge mit unzähligen Rebstöcken der süßen, blauen Banyuls-Trauben aus. Dort beginnt der sanfte Aufstieg. Nach einer Einführung von Clara Gari, der Kommentatorin des Weges, wird die Wanderung in regelmäßigen Abständen unterbrochen, mit Gedichten oder Anekdoten von und um Walter Benjamin ausgeschmückt und von Flötenliedern und einem Saiteninstrument begleitet.
Von Banyuls aus ist von einer weit entfernten Ebene mit sieben Pinien die Rede, einem Felsblock und einer Lichtung, auf der Walter Benjamin aufgrund seiner Herzbeschwerden nach drei Stunden Probewanderung am Abend vor der Grenzüberquerung allein die Nacht verbrachte. „Die Lichtung sollte etwa einem Drittel des Weges entsprechen.“ (Fittko, S. 132-133) Hier wird sich die Topographie nach 73 Jahren durch die Witterung stark verändert haben, denn die Lichtung ist nicht zu erkennen. Die Weinlese hat am 29. September 2013 bereits stattgefunden, während sie am 25. September 1940 gerade begonnen hatte. Lisa Fittko konnte sich daher mit ihren Schützlingen noch vor Sonnenaufgang unter die Weinbergarbeiter mischen und an den Wachposten am Ortsausgang vorbeikommen. Auf dem gesamten Weg bleibt unerklärlich, weshalb dieser immer weiter westlich mitten ins Gebirge führt und nicht unterhalb des Küstenrandes entlang verläuft. Lisa Fittko berichtet von einem meeresnahen Weganstieg: „Nach dem Aufstieg durch die grünen Hügel, die sacht ins Meer ausliefen, verlief unser Pfad parallel zur wohlbekannten offiziellen Straße, die am Gebirgskamm entlangführte und leicht gangbar war.“ Und weitere: „Der Aufstieg wurde nun steiler. […]. Der Begriff ’Weg’ wurde nun mehr und mehr zur Übertreibung.“ (Fittko, S. 136)
Dass die Lister- oder F-Route (nach Fittko benannt) als alter Schmugglerpfad unterhalb der Straße liegt und sich die „beiden Wege sehr nahe“ kommen, ist nicht erkennbar. Zu den Herzbeschwerden Walter Benjamins, die nun auch Norbert ereilen, schreibt Lisa Fittko:
„Benjamin wanderte langsam und gleichmäßig. In regelmäßigen Abständen – ich glaube, es waren zehn Minuten – machte er Halt und ruhte sich für etwa eine Minute aus. Dann ging er in demselben gleichmäßigen Schritt weiter. Er hatte sich das, wie er mir erzählt, während der Nacht überlegt und ausgerechnet.“ (Fittko, S. 137)
Wir bleiben weit hinter der Gruppe zurück. Glücklicherweise haben wir in Miquel Serrano, dem Historiker des Exilmuseums La Jonquera, der in dieser Gegend nach eigenen Worten „wie eine Bergziege hinauf- und hinabspringt“, einen verständnisvollen Bergführer. Überall warten neue Abrutschgefahren auf uns. Der Pfad ist so schmal, dass an manchen Stellen nur noch der Wanderschuh Platz findet, daneben fällt der Abhang steil in die Tiefe. Einige Male höre ich hinter mir einen dumpfen Aufprall. Stürzt Norbert den Hang hinunter? Nein, er hat sich, übermüdet und durstig, nur einfach seitlich fallen lassen und lechzt nach Wasser. Leider haben wir nicht genug davon im Rucksack, nur noch Käse, Obst, Nüsse und Schokolade. Wie lebenswichtig Wasser neben einer guten körperlichen Kondition ist, wird uns jetzt erst richtig bewusst.
Nach vier mühevollen Stunden des An- und Abstiegs zwischen Geröll, Sträuchern, Baumwurzeln und Felsbrocken erreichen wir den Bergkamm. Rettung aus dieser schier unendlichen Bergwelt ist in Sicht: und zwar in Form eines hellgrauen Geländewagens. Eine Wohltat für unsere müden Muskeln und ausgetrockneten Kehlen grüßt uns. Die ruhige, besonnene Art „unseres“ Bergführers hat uns sicher über das Gebirge gebracht. Wir sind ihm unendlich dankbar. Gleich darauf werden wir belohnt mit einer atemberaubenden Aussicht auf beide Seiten des Mittelmeeres, die von Lisa Fittko plastisch beschrieben wird:
„Weit unten, von wo wir gekommen waren, sah man wieder das tiefblaue Mittelmeer. Auf der anderen Seite, vor uns, fielen schroffe Klippen ab auf eine Glasplatte aus durchsichtigem Türkis – ein zweites Meer? Ja natürlich, das war die spanische Küste. Hinter uns, im Norden, im Halbkreis, Kataloniens Roussillon mit der Côte Vermeille.“ (Fittko, S. 139)
Hier soll sich der Tümpel befunden haben, aus dem der durstige Benjamin, trotz gesundheitlicher Bedenken, getrunken haben soll (Fittko, S. 140). Auf dem Gipfel treffen wir den Direktor des Museu de l‘Exili von La Jonquera, Jordi Font, und seine Frau Mireia. Den letzten Teil des Weges, laut Fittko „sacht bergab“ – nach Aussage der Wandergruppe allerdings steil abfallend – werden wir nun glücklicherweise im Geländewagen auf der sich durch die Berge schlängelnden Schotterstraße bis nach Portbou gefahren. Die überstandene Bergtour wird zu fünft im Restaurant Passatjes (frei nach Benjamin) mit einem schmackhaften Menü und einem Glas Wein gekrönt. Unsere auf der Wanderung gewonnenen Erkenntnisse in erlebten Grenzsituationen bleiben unvergesslich.
Die Anstrengung des Weges ist beträchtlich, und Benjamins Erschöpfungszustand, seine Angst vor der Verfolgung oder einer möglichen Entdeckung und vor dem belastenden Weiterleben konnte nachempfunden werden.
Die Frage nach dem freiwilligen oder unfreiwilligen Tod Benjamins wird im Film Who killed Walter Benjamin (http://www.whokilledwalterbenjamin.com/) von David Mauas (2005) aufgeworfen. Wir finden die These des lebensmüden Philosophen, der eine tödliche Überdosis Morphium nahm, glaubwürdiger. Durch die auf der Bergtour durchlebten Erfahrungen fühlen wir uns nicht nur mit Walter Benjamin, sondern auch mit dem Schicksal zahlreicher ins Exil und somit in die Freiheit flüchtender Menschen solidarisch verbunden.
Von Evelyn Patz Sievers/ Norbert Targan (September 2013)
Weiterführende Lektüre
Bertolt Brecht, «Die Verlustliste», in: Werke, Band 15: Gedichte 5. Gedichte und Gedichtfragmente 1940-1956, Frankfurt a.M., Suhrkamp, 1993
Lisa Fittko, Mein Weg über die Pyrenäen. Erinnerungen 1940-41, München/Wien: Hanser, 1985 (auch dtv)
Ingrid Scheurmann, „Ein Deutscher in Frankreich. Das Exil Walter Benjamins 1933-1940“ in: Für Walter Benjamin, Frankfurt a.M., Suhrkamp, 199
Schlagwörter: Biografisches, Katalonien, Museen und Sehenswürdigkeiten