Romantik: Kunsthype und Sehnsucht nach einer heilen Welt
Das Museumsjahr 2024 ist auch das Jahr der großen Romantiker William Turner und Caspar David Friedrich. Diese beiden Künstler könnten nicht unterschiedlicher sein, was Temperament, Charakter, Ar-beitsweise und die Vermarktung ihrer Werke an geht. Turner war temperamentvoll, wissbegierig, an naturhistorischen Phänomenen interessiert, weit gereist und neugierig. Friedrich war verschlossen, sehr heimatverbunden und gläubig. Beide Künstler haben jedoch in erster Linie für ihre Kunst und Malerei gelebt.
Die Sonderausstellungen in den großen Häusern werden durch eine enorme Werbemaschinerie angekündigt. Ausstellungen wie Johannes Vermeer im Rijksmuseum in Amsterdam oder Coco Chanel im Victoria und Albert Museum in London im letzten Jahr, waren schon vor der Eröffnung so gut wie ausgebucht. In diesem Jahr wird nun Caspar David Friedrich in Deutschland gefeiert. Hamburg, Berlin und Dresden zeigen den Künstler mit jeweils einem unterschiedlichen Themen-schwerpunkt. Dazu erscheinen unzählige Bücher, Kataloge und Publikationen. In München war eine umfassende Retro-spektive des englischen Ausnahmekünstlers William Turners zu sehen. Die Turner Ausstellung im Lenbachhaus war sehr gut besucht und wurde als Jahrhundertevent angepriesen. Für die Ausstellungen von Caspar David Friedrich muss man sehr rechtzeitig Tickets im Internet bestellen, sonst hat man keine Chance in den Genuss seiner Werke zu kommen.
Woher kommt dieser Hype für Künstler, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gelebt haben. Vor nicht allzu langer Zeit wäre das Interesse an den Romantikern sehr überschaubar gewesen. Sie waren zu religiös, zu gegenständlich, zu langweilig und natürlich zu naturverbunden. Woran liegt also das wiederkehrende große Interesse an diesen Künstlern und dieser Kunstepoche, ist es nur die geschickte Vermarktung oder eine Rückbesinnung auf die sogenannten „alten“ Werte?
Die Turner Ausstellung in München war tatsächlich eine Entdeckung. Joseph Mallord Turner (1775 – 1851) wurde zum ersten Mal mit einer Gesamtschau in Deutschland ge-würdigt. Die Tate London, die den gesamten Nachlass des Künstlers verwaltet, hat bekannte und noch nie gezeigte Werke nach München geschickt. Es wurde ein Maler gewürdigt, der in seinen Bildern die Natur neu interpretiert. Am Höhepunkt seiner Karriere stellt er die atmosphärische Natur dar, die je nach Tageszeit in einem anderen Licht erscheint oder durch Sturm, Nebel und Gewitter geprägt ist. Turner war schon zu Lebzeiten ein genialer Selbstvermarkter, der ein großes Interesse an Naturwissenschaften hatte, sich in-tensiv mit Goethes Farblehre auseinandersetzte und auf zahlreichen Reisen in seiner Heimat und dem Kontinent immer wieder Naturphänomene studierte und skizzierte.
Caspar David Friedrich (1774 – 1840), sein deutscher Zeitgenosse, könnte kaum unterschiedlicher sein. Der heimatverbundene Friedrich hat sich in einem sehr engen Radius bewegt. Viele seiner Landschaften entstanden nicht aus eigener Naturerfahrung, wie bei Turner, sondern aus Reiseberichten befreundeter Malerkollegen. Die Skizzen, die er bei Wanderungen in seiner Umgebung angefertigt hatte, fügte er wie bei einer Komposition zu einem Gemälde zusammen. Friedrich konnte wie kaum ein anderer Künstler das Übersinnliche, Spirituelle und Übermächtige der Landschaft in seinem Werk darstellen.
Beide Künstler konnten die Natur, wie nur wenige andere Künstler interpretieren, atmosphärisch, erhaben, lieblich oder gewaltig. Der Mensch wird bei Turner und Friedrich zum Accessoire der Landschaft. Beide Künstler machen in ihren Bildern die Übermacht der Natur deutlich, der der Mensch ausgeliefert ist. Interessanterweise waren weder Friedrich noch Turner gute Portraitmaler, deshalb haben sie auch oft ihre Figuren von hinten dargestellt. Beide Künstler haben am Anfang einer neuen Epoche gelebt – dem Beginn der Industrialisierung, die zu einer einschneidenden Veränderung der Landschaft und der Natur geführt hat. Vielleicht war diesen hochsensiblen Künstlern bewusst, dass sie die Chronisten einer untergehenden Naturlandschaft sind.
Und heute? Heute gehen wir in die großen Romantiker-Ausstellungen und können nicht glauben, was wir aus unserer Umwelt gemacht haben und werden von einer großen Sehnsucht nach einer verschwundenen vermeintlich heilen Welt ergriffen.
Von Gabriele Jahreiß, Kunsthistorikerin, März 2024
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