Kulturtechnikförderung
Unsere Buchtipss: Kulturtechnikförderung für den Sommer
Eines der wichtigsten Merkmale, das den Menschen vom Tier unterscheidet, ist die Beherrschung von Kulturtechniken. Diese werden definiert als „ kulturelle und technische Konzepte zur Bewältigung von Problemen in unterschiedlichen Lebenssituationen“ (Wikipedia), zu deren Umsetzung als wichtigste Voraussetzungen Lesen, Schreiben und Rechnen genannt werden. Die Tatsache, dass Sie den TASCHENSPIEGEL lesen, beweist, dass Sie in der richtigen Richtung unterwegs sind. Lassen Sie sich also von den folgenden Empfehlungen weiter inspirieren:
Kriminelles
Die Welt der Gebirge,
ihrer Täler und Schluchten und der darin enthaltenen verschworenen Dorfgemeinschaften ist durchdrungen vom Mystischen und Mythischen, von archaischen Vorstellungen und weltfremdem Aberglauben.
Drei Kriminalromane, die virtuos auf dieser Klaviatur des Unheimlichen spielen, sind „Der Tod so kalt“ von Luca D’Andrea, „Monteperdido – Das Dorf der verschwundenen Mädchen“ von Agustín Martínez und „Die große Kälte“ von Sabine H
offmann/ Rosa Ribas. Im ersten versucht ein „Zugereister“ in der Bergwelt Tirols ein altes Verbrechen aufzuklären und legt sich mit dem gesamten Dorf an. Im zweiten taucht in einem abgelegen
en Pyrenäendorf nach 5 Jahren ein verschwundenes Mädchen wieder auf, während ihre Freundin verschollen bleibt, und stürzt die ganze Gemeinde in Misstrauen und Zweifel.
In die „ Die große Kälte“ (Fortsetzung von „Das Flüstern der Stadt“, einem Krimi aus dem miefigen Barcelona der Franco-Zeit) wird die junge Journalistin Ana Martí in ein abgelegenes Bergdorf in Aragón geschickt, wo ein junges Mädchen mit Stigmata an Händen und Füßen wie eine Heilige verehrt wird. Dann wird die Leiche eines Mädchens gefunden, und die Ereignisse überschlagen sich. In allen drei Fällen perfekter Berggrusel, vielleicht besser am Strand zu lesen als auf der Alm.
Gruselig ist ebenfalls „The Girl Before – Sie war wie du – und jetzt ist sie tot“ von J.P. Delaney. Wer bei dem englischen Titel an „The Girl on the Train“ denkt, liegt gar nicht falsch. Auch wenn die Geschichte von der Frau, die, ohne es zu wissen, den Platz ihrer Vorgängerin einnimmt, nicht die Tiefe und Vielschichtigkeit erreicht, mit der Paula Hawkins erzählt, ist mehr als ausreichend für nervenkitzelnde Spannung gesorgt.
Klein, aber fein: Julian Barnes ist seit über 20 Jahren eine feste Größe in der angelsächsischen Literatur und üb
errascht immer wieder mit den Themen, denen er sich widmet. In „Der Lärm der Zeit“ erzählt er in komprimierter Form die Leidensgeschichte des russischen Komponisten Schostakowitsch, der nach einer verpatzten Aufführung von Lady Macbeth von Mzenska bei Stalin in Ungnade fällt. Am 28. Januar 1936 erscheint in der Prawda ein absoluter Verriss, infolgedessen der Komponist sein Leben bedroht fühlt und jeden Abend mit gepacktem Koffer neben dem Aufzug steht, um seiner Familie den Anblick seiner Abholung zu ersparen. Barnes macht aus dem Konflikt des Komponisten, der am liebsten in der Musik lebte und vom „Lärm der Zeit“ verschont bliebe, ein Lehrstück über Mut und Feigheit, Selbstkorruption und Aufrichtigkeit.
„Vom Ende an“ von Megan Hunter widersetzt sich in allen Belangen einer endgültigen Zuordnung in Sachen Thematik und Genre. Eine schwangere Frau und ihr Ehemann müssen nach einer globalen Flutkatastrophe aus dem von der Überschwemmung bedrohten London in Richtung Schottland fliehen. Während London endgültig versinkt, setzen bei der Frau die Wehen ein, und am Ende verschwindet der vollkommen überforderte Mann auf Nimmerwiedersehen. Die Frau bringt ihr Kind allein auf die Welt und schildert im Dialog mit dem Säugling, der nur Z. genannt wird, ihre Gefühle, Assoziationen und Eindrücke, während die Welt um sie herum im Chaos versinkt. Poetisch, vielschichtig, anrührend – ein kleines allegorisches Meisterwerk der Sinnsuche zwischen Anfang und Ende.
„Sieben Minuten nach Mitternacht“ von Patrick Ness wurde bereits 2011 veröffentlicht und fand damals nicht die Aufmerksamkeit, die der Roman verdient gehabt hätte. Glücklicherweise wurde die Geschichte gerade verfilmt und gibt die Gelegenheit zur der Empfehlung, zuerst das Buch zu lesen. Der 13 jährige Conor, in der Schule gemobbt und seelisch gequält von einer scheinbar emotionslosen Großmutter, wird jede Nacht vom gleichen Albtraum gequält, seit seine Mutter unheilbar an Krebs erkrankt ist. Doch eines Nachts taucht anstatt der üblichen Gestalten ein uraltes Wesen auf, das alle seine Ängste und Verzweiflung zu kennen scheint. Fürderhin sucht Conor jede Nacht um 7 Minuten nach Mitternacht die Gesellschaft des seltsamen Wesens, das ihm hilft, seine Probleme und die Fragen des Schicksals klarer zu sehen. Was vordergründig als Monsterposse daher kommt ist in Wahrheit ein feinsinniges Buch über die Fährnisse des Lebens und den Umgang mit dem Tod. Ein Tipp dazu: eine Geschichte mit einer ähnlichen Flucht- und Projektionsfigur ist „Pans Labyrinth“ von Guillermo del Toro (2002) – sehr gruselig und absolut sehenswert, aber – bitte – nichts für Kinder unter 16 Jahren …
Amerikanisch
Seit dieser gelbhaarige Troll durch die Nachrichten trumpelt, fragen sich viele Menschen, wie es dazu kommen konnte, dass ein ungebildeter, narzisstischer Egomane POTUS werden konnte. Vielleicht keine endgültigen Antworten, aber Hinweise finden sich in zwei Büchern amerikanischer Autoren. In „Hillbilly Elegie“ beschreibt J.D. Vance Hoffnung und Elend seiner Kindheit und Jugend im Ohio des sogenannten “Rust Belt“: während er am Ende über den Militärdienst beim Marine Corps den Absprung aus den Appalachians schafft und es zum Investment Banker im Silicon Valley bringt, fühlt sich die Mehrheit dort abgehängt, vergessen und vereint nur im Zorn auf die politische Elite in Washington.
Ähnlich schildert Jennifer Haig in „Licht und Glut“, wie in einer abgelegen Ecke Pennsylvanias die Menschen den verlorenen Zeiten nachtrauern, als sie durch Öl- und Kohleförderung zu bescheidenem Wohlstand kamen. Doch die Quellen sind versiegt und die Minen leer, geblieben ist nur die Hoffnung auf bessere Zeiten. Folgerichtig fallen die Bewohner von Bakeron auf den smarten Bobby Frame herein, der ihnen goldene Zeiten verspricht, indem per Fracking Erdgas aus dem unterirdischen Gestein gelöst werden soll. Die Folge sind jedoch die Vergiftung des Trinkwassers und die Zerstörung der Lebensgrundlage. Haighs Buch versteht sich nicht nur als Porträt der Verlierer des amerikanischen Traums, sondern ist ein leidenschaftlicher Appell gegen die Vergewaltigung der Natur durch Fracking.
Schnelldurchlauf
Yuval Harari „Homo Deus“: Wer seine „Kurze Geschichte der Menschheit“ schon kennt und gerade ” Licht und Glut ” beendet hat, ist ausreichend vorbereitet auf Hararis Untersuchung, wohin die evolutionäre Reise des Menschen geht/ enden wird.
„Bessersprecher Spanisch“ Wer Redensarten liebt und ein Geschenk braucht für den, der schon alles hat, liegt bei diesem kleinen Kompendium vollkommen richtig. Besonders ist daran, dass nicht nur die deutsche Übersetzung/ Entsprechung gelistet ist, sondern erklärt wird, woher die Redensarten kommen. Unterhaltsam und unverzichtbar informativ.
Neu als Taschenbücher verfügbar sind Altes Land von Dörte Hansen und Gehen –Ging –Gegangen von Jenny Erpenbeck. Während „Altes Land“ die Thematik „Altflüchtling und Stadtflucht“ behandelt, aber auch zu tun hat mit Ankommen und Dableiben, beleuchtet Erpenbeck das Flüchtlingsthema aus der Perspektive des „Was kann man tun?“
Und wenn Sie immer schon wissen wollten, was im BAMF vor sich geht und in die Köpfe der Schlange Stehenden blicken wollten, dann bleibt bestimmt noch Zeit für „Ohrfeige“ von Khider Abas, dem neuen Mainzer Stadtschreiber.
Von Rainer Lorson, Juni 2017
Schlagwörter: Kultur