Verspätete Promotion
Die bewegende Geschichte der Kinderärztin Prof. Dr. Ingeborg Rapoport
Warum ist diese Geschichte erzählenswert? Die dritte Staffel der historischen ARD-Fernsehserie über die weltberühmte Berliner Charité rückte den Namen Rapoport ins Rampenlicht. Im Januar 2021 wurden Prof. Dr. Ingeborg Rapoport eine Radiosendung und ein Zeitungsartikel gewidmet. Das außergewöhnlich-ste Ereignis und die Krönung eines der medizinischen Forschung geweihten Lebens ist die Verleihung eines Doktortitels in ihrer Heimatstadt im stolzen Alter von 102 Jahren.
1937 hatte Ingeborg Syllm ihr Staatsexamen an der Medizi-nischen Fakultät der Universität Hamburg abgelegt, ihre Dissertation zu Lähmungserscheinungen infolge von Diph-terie bei Prof. Rudolf Degkwitz präsentiert und arbeitete als Assistenzärztin am Israelitischen Krankenhaus. Doch die Zulassung zur mündlichen Prüfung wurde ihr als „Juden-mischling ersten Grades“ von der nationalsozialistischen Hochschulbehörde verweigert.
2015 leistete die Stadt Hamburg eine angemessene Wiedergutmachung. Prof. Dr. Ingeborg (Syllm) Rapoport, die in den USA den Doktorgrad erlangt hatte, auf eine langjährige Praxis als Ärztin, Professorin und Forscherin – 20 Jahre an der Berliner Charité – zurückblickte, wurde die mündliche Prüfung zum gesamtdeutschen Doktortitel abgenommen und zwar in der Berliner Wohnung der betagten Medizinerin unter der Leitung des Dekans des Hamburger Universitätskranken-hauses Eppendorf (UKE), Prof. Dr. Uwe Koch-Cromus, und dem Prüfungskomitee aus Prof. Michael Frotscher und Prof. Gabriele Grune. Ingeborg Rapoport, bestens vorbereitet, bewegte sich auf absolut aktuellem medizinischem Wissensstand. Mit einer Verspätung von einem Dreiviertel Jahrhundert erhielt die 102-Jährige im Beisein ihrer Familie am Hamburger UKE die Doktorwürde. Nie zuvor hatte ein Mensch dieses hohen Alters eine Promotion erlangt.
Welch bewegtes Leben hatte diese bemerkenswerte Frau, die ihr Leben der Medizin weihte, bis zu ihrer verspäteten Ehrung geführt! Aufgrund ihrer Herkunft wurde sie dreimal zum Exil gezwungen (USA – Österreich – DDR). In ihrer Autobiographie beschreibt Ingeborg Rapoport ihre medizinischen und persönlichen Erlebnisse während dreier spannender Lebensphasen und ihr politisches Engagement für soziale Gerechtigkeit.
Kurz nach ihrer Geburt 1912 in Kribi (Kamerun) kehrten die Eltern nach Deutschland zurück und ließen sich in Hamburg-Eppendorf nieder. Ihre Mutter Maria Feibes – hochbegabte Pianistin- arbeitete als Musiklehrerin an einer Hamburger Musikakademie. Angesichts der lebensbedrohlichen Lage für jüdische Menschen wagte die junge Medizinerin Ingeborg Syllm 1938 den Weg in die Emigration.
In Nordamerika studierte sie zwei Jahre Medizin am Women’s Medical College of Pennsylvania in Philadelphia, arbeitete an Krankenhäusern in Brooklyn und Ohio und schloss 1940 mit dem medical doctor ab. An der University of Cincinnati spezialisierte sie sich bei Laborforschungen in Pädiatrie. 1944 lernte sie den österreichischen Biochemiker Dr. Mitja (Sam) Rapoport kennen. 1946 heirateten die beiden und bekamen in den Folgejahren vier gemeinsame Kinder. Als überzeugte Sozialisten und Mitglieder der Kommunistischen Partei der USA engagierten sich beide gegen Rassendiskriminierung und gerieten in den Überwachungsfokus des House Committee on Un-American Activities. Aufgrund massiver Vorwürfe gegen Mitja entschloss sich das Paar 1950 zur Emigration nach Wien.
Um der Überwachung durch die CIA zu entgehen, siedelte die Familie 1952 nach Ostberlin über. Im Charité-Krankenhaus wurde Samuel Mitja Rapoport eine Professur angeboten. Seine Forschungen und sein Lehrbuch „Medizinische Biochemie“ sind über die Grenzen der DDR hinaus bekannt. Ingeborg arbeitete als Oberärztin, zuletzt als Fachärztin für Kinderheilkunde am Hufeland Krankenhaus in Berlin-Buch. Von 1953 bis zu ihrer Emeritierung 1973 war sie an der Kinderklinik der Charité tätig, ab 1960 als Dozentin. 1959 habilitierte sie in experimenteller Forschung am Institut für Biochemie der Humboldt-Universität Berlin. 1969 wurde sie als Laborforscherin, Kinderärztin und Professorin Inhaberin des ersten europäischen Lehrstuhls für Neonatologie.
Ihre Erkenntnisse hinsichtlich der Komplexität wissenschaftlicher Forschung, die nur durch enge internationale Zusammenarbeit erfolgreich sein kann, sind – in Zeiten der Corona-Pandemie – hochaktuell: „Die immer komplizierteren Fragen der Lebensprozesse, die heutzutage der Lösung harren, können vielleicht nur in tausenden kleinen Schritten, mittels diffenziertester Methoden und organisierter Zusammenarbeit von Wissenschaftlern unterschiedlichster Disziplinen bearbeitet werden.“ (Rapoport:170)
2017 starb Prof.Dr. med. Ingeborg Rapoport – hochgeehrt – in Berlin.
Von Dr. phil. Evelyn Patz Sievers, April 2021
Literatur: Ingeborg Rapoport; Meine ersten drei Leben, Erinnerungen, 2. Auflage, Berlin, Nora Verlagsgemeinschaft, 2002.
Schlagwörter: Frauen, Moderne Welt