Adieu Pandemie and Company
Als uns letztes Jahr überraschend Covid19 heimsuchte, wachten wir eines Morgens auf, guckten aus dem Fenster und dachten: Mensch, sind jetzt alle unsere Rechte weg? Überall ungekannte Einschränkungen: Lockdown, Mobilitätsbegrenzung, Schulschließungen, Geschäfte, Friseure, Theater, Museen – alles dicht. Und plötzlich kam bei manchen sogar das Gefühl auf, dass wir nicht mal mehr unsere Meinung sagen durften. Einschneidende Entscheidungen schienen oft in der Hand eines einzigen Mediziners zu liegen. Immer andere Ansagen vom Gesundheitsministerium oder Innenministerium – das war in Spanien nicht anders als in Deutschland oder Frankreich oder sonst auf der Welt. Wem sollten oder konnten wir folgen? Wessen Rat beherzigen? War das alles noch richtig? Uns dröhnte bald der Kopf. Und das war noch nicht einmal das Schlimmste, weil wir uns glücklich schätzen durften, nicht selbst erkrankt und ins Krankenhaus gekommen zu sein. Das Recht auf Gesundheit der Einwohner*innen und der Schutz des Gesundheitssystems mussten in Einklang gebracht werden mit unseren anderen Rechten. Wir mussten erfahren, dass unsere Gesundheitssysteme und die Politik auf eine solch komplizierte Situation nicht einmal in den sogenannten hochentwickelten Ländern vorbereitet waren. Und um unsere Meinungsfreiheit schien es auch nicht gut bestellt. Es fühlte sich an, als wäre nicht mehr erlaubt, alles zu sagen oder zu fragen. Einige betonten, dass uns nun alle Rechte abhandengekommen seien, sogar weggenommen worden seien. Aber hatten schon jemals alle die gleichen Rechte? Waren wir je gleichberechtigt? Ich denke, dieses Wunderland hat es noch nie gegeben. Frauen reklamieren ihre Rechte seit langem, Gewerkschafter*innen die von Arbeiter*innen oder Minderheiten verschiedenster Couleur die ihren. Was bedeutet aber die Meinungsfreiheit? Die französische Philosophin Monique Canto-Sperber fordert in ihrem gerade erschienenen Buch ganz klar, dass jede*r seine*ihre Meinung frei äußern darf. Solange er*sie nicht jemand damit verletzt. Sprache ist ein starkes Instrument. In den letzten Jahrzehnten haben wir unsere Ansprüche daran verfeinert. Rassistische oder sexistische Stereotype landen schneller vor Gericht. Wer frei seine Meinung äußert, sollte auch die Argumente ausfeilen, mit denen er*sie in die Debatte eintritt, von der unsere Demokratie auf allen Ebenen lebt. Nur etwas in den Raum stellen oder sogar von einer Bühne herunterbrüllen, reicht für Canto-Sperber nicht. Etwas zu sagen, um andere zum Schweigen zu bringen, gilt nicht. Die Pandemie hat fast unbemerkt eine Debatte um unsere Rechte losgetreten. Der Autor und Jurist Ferdinand von Schirach hat eine Grundrechtsdebatte in Gang gesetzt, da die Verfassungen sich neuen Herausforderungen in unseren globaler werdenden Gesellschaften stellen müssen. Er schlägt vor, die europäische Verfassung um sechs Grundrechte zu erweitern, um Antworten auf Umweltzerstörung, Digitalisierung, Macht der Algorithmen, systematische Lügen in der Politik, ungehemmte Globalisierung und Bedrohungen für den Rechtsstaat zu finden. Intelligent und optimistisch bleiben wir am Ball, damit wir gemeinsam etwas Positives aus der Pandemie ziehen können.
Von Ina Laiadhi, Chefredakteurin, Editorila 146, Juni 2021
Literaturhinweise
Monique Canto-Sperber, Sauver la liberté d’expression, Alain Michel, 2021
Ferdinand von Schirach, Jeder Mensch, Luchterhand Literaturverlag, 2021
Schlagwörter: Moderne Welt