Der Schriftsteller Francesc (Paco) Candel und „seine“ Bibliothek
Relativ neu – und vielen Bewohnern und Besuchern Barcelonas unbekannt – ist die im Stadtviertel Sants-Montjuïc im November 2006 eingeweihte Biblioteca Francesc Candel. Für den Bau wurde eines der Häuser der ehemaligen Lampenfabrik in der manzana Philips (1954), vom Architekten Josep Lluis Canosa i Magret umgestaltet. Nunmehr stehen den Benutzer*innen der Bibliothek in einem modernen zweistöckigen Gebäude auf 2.091 m² Fläche im Erdgeschoss je ein Veranstaltungs- und ein riesiger Zeitungslesesaal, eine Cafetería und in der 2. Etage ein Kinderraum, jeweils ein Multimedia-, Internet-, Musik- und Kinosaal und eine Terrasse zur Verfügung. Die Terrasse der Cafetería im Erdgeschoss geht in einen kleinen Stadtpark über und ist an heißen Sommertagen eine grüne schattige Oase.
Was macht diese Bibliothek interessant und sehenswert? Nicht nur die hellen, großflächigen mit modernen Geräten und unzähligen Büchern ausgestatteten Räume, sondern es ist der Namensgeber, der diesem Kulturinstitut einen besonderen Nimbus verleiht: FRANCESC (PACO) CANDEL i TORTAJADA, der Immigrantenjunge aus Valencia, dessen Eltern sich Ende der 1920er Jahre auf der Suche nach einem besseren Leben am Fuße des Montjuïc ansiedelten.
In seinen auf Katalanisch und Spanisch geschriebenen zahlreichen Büchern schildert Francesc Candel seine Jugend in den Barracken – den Cases Barates-Grupo Eduard Aunós – am Montjuïc in La Marina/Zona Franca, einem der ärmsten Viertel Barcelonas. In diesem Stadtgebiet verbringt Francesc Candel den Rest seines Lebens. Von hier aus erhebt der Schriftsteller und Journalist die besonders zwischen den 1950er und 1970er Jahren nach Katalonien strömende Immigration zur Literatur und sozialen Anklage. Durch seine Bücher will er die Gesellschaft für die Bedürfnisse der Benachteiligten sensibilisieren und zur Solidarität aufrufen.
Geboren am 31. Mai 1925 in Tortajada und seit dem 2. Lebensjahr in Katalonien lebend, muss Francesc Candel 1939 die Schule verlassen, um Geld zu verdienen. Aus seinem Wohnviertel schöpft der Autodidakt Candel reichlich Stoff für die unzähligen Artikel und Reportagen, die er in den Tageszeitungen und Zeitschriften wie Tele/eXpress, Serra d’Or (eine renommierte Literaturzeitschrift), Avui und La Marina veröffentlicht.
Sukzessive erscheinen Candels Schriften: Hay una juventud que aguarda (1956, “Eine wartende Jugend”), Donde la ciudad cambia su nombre (1957, “Wo die Stadt ihren Namen ändert”), Han matado a un hombre, han roto el paisaje (1959, “Ein Mensch wurde getötet, eine Landschaft zerstört”), Temperamentales (1960, “Temperamente”), Treinta mil pesetas por un hombre (1962 “Dreißigtausend Peseten für einen Menschen”) , Dios, la que se armó (1964, „Gott, was für ein Aufruhr“), sowie die Erzählungen Échate un pulso, Hemingway (1959, „Lass dich auf ein Armdrücken ein, Hemingway“).
Durchschlagende Resonanz erfährt Francesc Candels 1964 publiziertes Werk Els altres catalans (Die anderen Katalanen), auf das weitere ähnliche Titel folgen: Parlem-ne (1967, „Sprechen wir darüber“), Encara més sobre els altres catalans (1973, „Noch mehr über die anderen Katalanen“), Els altres catalans vint anys després (1985, „Die anderen Katalanen zwanzig Jahre später“), Els altres catalans del segle XXI (2001, „Die anderen Katalanen des 21. Jahrhunderts”). Letzteres in Zusammenarbeit mit Josep M. Cuenca i Flores, in dem auch die neue europaweite Immigrationswelle zur Sprache gebracht wird. Das erste Buch dieser Reihe schildert die Isolation der in der Franco-Zeit favorisierten spanischsprechenden Immigranten als politischen Schachzug, um die katalanische Identität zu unterminieren. Die daraus resultierende Marginalisierung dieser Gruppen, deren mangelnde Integration und die aufkommenden sozialen Probleme waren vorprogrammiert und werden von Candel an den Pranger gestellt.
Stets wachsamer Beobachter seiner Nachbarschaft zugunsten sozialer Gerechtigkeit übernimmt Candel die Rolle des Sprechers der nach Katalonien eingewanderten Immigranten. In Un charnego en el Senado (1979, „Ein südspanischer Einwanderer im Senat“) schildert er seine Erfahrungen als Senator, eine politische Tätigkeit, die er auf Vorschlag der Sozialistischen Partei Kataloniens (PSC und PSUC) von 1977 bis 1979 ausübt.
Im Laufe seines Lebens erhält Candel vielfache Auszeichnungen, u.a. das Creu de Sant Jordi (1983), Premi Jaume I (1997), die Medalla d’Or de la Generalitat (2003). 2005 wird in der Zona Franca die Stiftung Paco Candel gegründet und seit 2008 der Memorial Candel-Preis an Personen mit sozialem Engagement vergeben.
Hochverehrt stirbt Francesc Candel am 23. November 2007 in Barcelona. Sein Name wird verewigt in der Stiftung Francesc Candel und „seiner“ Bibliothek (C/de la Amnistía Internacional, 10). Hier sind fast einhundert Titel seines Gesamtwerkes geborgen, die mit wenigen Ausnahmen ausgeliehen oder im großen hellen Lesesaal konsultiert werden können. Im Archiv der Biblioteca de Catalunya befinden sich außerdem etwa 5.000 Briefe und Artikel, die er zu seinen Lebzeiten verfasste.
Vor einigen Jahren haben wir Candels Stammkneipe im Barrio La Marina aufgespürt, in der uns in einem separaten Zimmer die mit Candels Fotos geschmückten Wände vorgeführt wurden. Ein Besuch in der Biblioteca Francesc Candel ist für langjährige Bewohner oder stetige Besucher Barcelonas und nicht nur für Literaturliebhaber empfehlenswert, und eigentlich ein unbedingtes „Muss“!
Von Dr. phil. Evelyn Patz Sievers, Juli 2022
Quellen:
https://ajuntament.barcelona.cat/biblioteques/bibfrancesccandel/es/canal/biblioteca-0
https://www.enciclopedia.cat/gran-enciclopedia-catalana/francesc-candel-i-tortajada
Schlagwörter: Kultur