Der Tanz, eine natürliche Bewegung, 2. Teil
Tanzen im 19. Jahrhundert
Seinen absoluten Höhepunkt erreichte das Ballett im 19. Jahrhundert. Die Tänzerinnen begannen auf Spitze zu tanzen. Die Spitzenschuhe, die erstmals 1801 verwendet wurden, ermöglichten es den Tänzerinnen, auf den Zehenspitzen zu stehen, um noch leichtfüssiger zu wirken. Zu diesem Zeitpunkt wurde mit dem Aufkommen des “Tutu” auch das Bein der Tänzerin enthüllt.
La Sylphide wurde am 12. März 1832 an der Pariser Oper aufgeführt und galt als der Inbegriff des romantischen Balletts. Gleichzeitig war es ein Wendepunkt im klassi-schen Tanz. Mit dem graziösen, auf Zehenspitzen schwebenden Tanz wurde der Grundstein für den heutigen Spitzentanz gelegt. Es entstanden Werke wie “Giselle”
Grundstein für den heutigen Spitzentanz. Es entstanden die Klassiker „Giselle” von Adolphe Adam, „Schwanensee”, „Dornröschen” und der „Nussknacker” von Pjotr Tschaikowski und „Don Quijote” von Ludwig Minkus. Tänzer wurde ein richtiger Beruf, und die Primaballerina war das Äquivalent zur Primadonna der Oper. In dieser Zeit wurde auch die kaiserliche Ballettschule in Sankt Petersburg, das Mariinsky-Ballett ins Leben gerufen, das an das Mariinsky-Theater gebunden war. 1776 war schon das Bolshoi-Theater in Moskau gegründet worden, wo dessen Ballettkompanie ihr Zuhause hat. Beide Ballettkompanien verdanken ihre Gründung der damaligen russischen Zarin Katharina II. und gehören mit ihren Schulen auch noch heute zu den bedeutendsten weltweit. Der Franzose Marius Petipa kam als junger Tänzer nach Russland und setzte dort seine Karriere als Choreograph fort. Er arbeitete eng mit Tschaikowski zusammen und entwarf viele berühmte Choreographien, wie die großen Klassiker „Nussknacker“, „Schwanensee“, „Dornröschen“ und „Don Quijote“.
Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelte sich eine Gegenströmung: der Ausdruckstanz. Weg von strengen und vorgeschriebenen Bewegungsabläufen wollten die Ausdruckstänzer durch natürliche Bewegungen sich selbst mit ihrer Seele in Einklang gelangen. Isodora Duncan war eine der ersten Tänzerinnen, die Körper, Seele und Geist wieder miteinander verbinden wollten. Sie orientierte sich dabei an griechischen Werken der Philosophen und an Abbildungen auf Vasen. Einflüsse vom Expressionismus, der Frauen-Bewegung oder der „Zurück zur Natur”-Bewegung beeinflussten ebenfalls den Ausdruckstanz.
Die „Ballets Russes” wurden von Sergei Djagilew 1909 gegründet und galten als eines der bedeutendsten Ballettensembles des 20. Jahrhundert. Djagilews Ziel war es, russische Kunst in Europa bekannt zu machen. Die Choreographen der Kompanie Michel Fokine, Léonide Massine und George Balanchine legten den Grundstein für das moderne Ballett, wobei Tänzer wie Vaslav Nijinsky und Anna Pawlowa zu Weltruhm gelangten. Zum ersten Mal in der Geschichte war „der Tanz” die leitende Kunstentwicklung in Europa.
Michel Fokine, eigentlich Mikhail Fokin, experimentierte mit freien Arm- und Torso-Bewegungen und wollte so einen authentischen Ausdruck der Tänzer erzeugen. Er schaffte die Spitzenschuhe ab und ließ die Tänzer stattdessen barfuß tanzen. Statt Tutus ließ er Kostüme nähen, die das Thema und den Charakter der Tänzer verstärkten. Die Kostüme sollten mit dem Stil und der Zeit des dargestellten Balletts übereinstimmen – ein wesentlicher Unterschied zu Isadora Duncan, die immer nur in ihrer griechischen Tunika tanzte. Michel Fokine wurde mit seiner Choreografie „Der sterbende Schwan“, die er eigens für Anna Pawlowa entworfen hat, weltberühmt. Die Musik stammt aus dem „Karneval der Tiere” von Camille Saint-Saëns, und sie zeigt in nur wenigen Minuten den Todeskampf eines Schwans. Genauso berühmt wurden seine Werke „Scheherazade”, der „Feuervogel” und – nicht zu vergessen – sein größtes Meisterwerk „Petruschka”, in dem die Puppen eines Puppentheaters auf dem Markt lebendig werden.
Der Ausdruckstanz hat sich dann zum „Modern Dance”, expressionistischen Tanz oder auch New German Dance weiterentwickelt. Frühere Choreografien, wie z.B. die Tänze „Menschliche Leidenschaften (Afectos humanos)“ von Dore Hoyers, einer der bedeutendsten Vertreterinnen des Ausdruckstanzes, wurden wieder aufgegriffen. Gegen gesellschaftliche Konventionen, gegen die Industrialisierung und Mechanisierung der Lebens- und Arbeitswelt, gegen die enge Rolle der Frauen in der Gesellschaft: Die Lebensreformbewegungen am Anfang des 20. Jahrhunderts stellten häufig den Körper als Medium zur Befreiung in den Mittelpunkt. Seinen Gefühlen sollte Ausdruck verliehen werden. Rudolf von Laban und Mary Wigman machten den Ausdruckstanz als New German Dance international bekannt. Dresden wurde in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts zum Mekka dieser neuen Tanzkunst. Dort gründete auch Mary Wigman ihre Tanzschule.
Das Ende des Gegensatzes zwischen Modern Dance und klassischem Ballett war 1959 in den USA die Uraufführung der von Balanchine und Martha Graham gemeinsam choreografierten Épisodes. Ehemalige Graham-Schüler gaben dem Ballett neue Impulse. Sie entwickelten experimentelle Ballett-Stile, die die Erfahrung zweier Weltkriege und der zunehmenden Umweltzerstörung durch den Menschen einschlossen.
Revolution des Tanztheaters
Die Tänzerin und Choreografin Pina Bausch entwickelte mit ihrem Tanztheater in Wuppertal etwas völlig Neues. Ihre Kompanie entfachte eine Revolution und definierte das Tanzen neu. Ihr radikaler Ausdruckstanz ging den Zuschauern in den 1970er Jahren gegen den Strich. Die Tänzer bei Pina Bausch tanzten nicht einfach nur: Sie rannten, sprachen, sangen, weinten oder lachten, während die Choreografie ihnen höchste Konzentration abverlangte. Ihre Stücke lebten von ihrer Ehrlichkeit und getanzten Innerlichkeit. „Mich interessiert nicht, wie die Menschen sich bewegen, sondern was sie bewegt.” Dieser Satz von Pina Bausch wird noch heute viel zitiert. Die Tänzer des Wuppertaler Tanztheaters waren ein eingeschworenes Ensemble, das bis heute weltweit einzigartig ist. Auch nach Pina Bauschs Tod 2009 tanzten sie die Stücke der legendären Choreografin weiter.
Wenn man vom Tanzen spricht, darf der Name Rudolf Nurejew nicht fehlen. Er gehört unbestritten zu den ausdrucksstärksten und beeindruckendsten Tänzern unserer jüngsten Vergangenheit. Bei seinen endlosen Pirouetten, seinen sensationell hohen Sprüngen und seiner technischen Virtuosität stockte dem Publikum manchmal der Atem. Er tanzte auf den größten Bühnen der Welt und war in den 60er- und 70er Jahren ein Popstar.
Von Petra Eissenbeiss, Februar 2021
Interview mit der Choreographin Constanza Macras, 2012
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