Die europäische Forschung in Katalonien
Die europäische Federführung in der Forschung beginnt in Katalonien
ITER, Graphene Flagship, CERN, Trappist-1, Solar Impulse… Möglicherweise sind Ihnen diese Abkürzungen und Namen auf den ersten Blick eher unbekannt. Dennoch bedeuten sie viel, sogar sehr viel für die Forschung und die internationale Innova-tion. Sie stehen für wissenschaftliche Exzellenz, revolutionäre Entdeckungen und gewagte, bahn-brechende Abenteuer, die in Bereichen wie Energie, Materialforschung, Physik und Astronomie Rekorde zeitigen. Und etwas Weiteres haben sie gemeinsam: Es sind Projekte und Initiativen, die einen europä-ischen Stempel tragen, sprich bei denen die Europä-ische Union entweder direkt oder durch eines ihrer impulsgebenden Forschungs- und Innovations-programme eine federführende Rolle spielt.
Eines der neuesten Beispiele ist die erste riesige Magnetspule von 14×9 Metern und 300 Tonnen, welche in La Spezia (Italien) gebaut wurde und zum ITER-Projekt gehört. ITER, eine dieser von mir eingangs erwähnten Abkürzungen, ist ein globales Projekt zur Entwicklung eines Kernfusionsreaktors zum Zwecke der Erzeugung der gleichen Energie wie die der Sonne und anderer Sterne. Es geht im Grunde nicht mehr und nicht weniger darum, “auf der Erde eine Sonne zu schaffen”, die in der Lage sein soll, auf unerschöpfliche Weise sichere und saubere Energie zu produzieren. Die Riesenmagnetspule von La Spezia ist demnach ein wissenschaftlicher Markstein, handelt es sich hier doch –innerhalb einer in sich noch größeren Herausforderung- um die technologisch komplexeste Magnetspule, die bisher konstruiert wurde. Es ist kaum vorstellbar, dass je irgendetwas mehr Auswirkung auf unsere Zukunft und die unseres Planeten haben könnte als der allgemeine Zugang zu einer absoluten, aber schadstofffreien Energiequelle. Die EU leitet dieses Projekt, in dem auch die USA, Japan, China, Indien, Korea und Russland mitwirken, indem sie circa die Hälfte der Kosten trägt und den Bau der Testanlage in Cadarache, Südfrankreich finanziert hat. Die Verwaltung des europäischen Beitrags zum ITER-Projekt erfolgt über die in Poblenou/ Barcelona befindliche Agentur Fusion for Energy.
Die Graphen-Forschung ist ein weiterer Fall zur Veranschauli-chung der wissenschaftlichen und technologischen Führungs-position der Europäischen Union. Graphen wird aufgrund seiner einzigartigen Merkmale auch das “Material der Zukunft” genannt: Es ist bidimensional (d.h. es besteht aus einer einzigen Schicht von Atomen reiner Kohle), es ist hyperflexibel, leicht, resistent und besitzt eine große Leitfähigkeit. Seine multiplen Anwendungsmöglichkeiten -angefangen bei Raumsatelliten bis hin zu Krankenhausausrüstungen, Batterien und Handybildschirmen, Hochgeschwindigkeitskommunika-tionsnetzen, Solarplatten oder Fahrzeugen- können in Kürze die Industrie revolutionieren. Die Europäische Union hat sich auch bei diesem Material an die Spitze der globalen Forschung gestellt und die Initiative Graphene Flagship ins Leben gerufen, für die eine Milliarde Euro bereitgestellt wurde; die größte öffentliche Investition, die es je für ein wissenschaftliches Projekt gegeben hat. Beim kürzlichen World Mobile Congress hatte ich Gelegenheit, einige reale Anwendungsgebiete dieses Materials zu sehen, zum Beispiel ein kleines Hautpflaster, das in der Lage ist, in Realzeit Informationen über Pulsschlag, Blutdruck und Blutsauerstoff des Trägers weiterzuleiten. Ein Großteil der europäischen Graphen-Forschung wird im Institut für Photonische Wissenschaften durchgeführt, das seinen Sitz in Castelldefels hat.
Über Katalonien hinausgehend, steckt Europa auch hinter weiteren großen wissenschaftlichen Entdeckungen.
Zum Beispiel gibt es an der Grenze zwischen Frankreich und der Schweiz einen 27 km langen, kreisförmigen unterirdischen Tunnel. Es handelt sich um den größten Partikelbeschleuniger der Welt, und das Projekt gehört zum Europäischen Rat für Kernforschung. Letzterer ist verantwortlich für Entdeckungen und Erfindungen, die die neueste Geschichte geprägt haben, wie zum Beispiel die erste Web-Seite, welche 1989 im Europäischen Rat für Kernforschung durch den britischen Wissenschaftler Tim Berners-Lee eingerichtet wurde, oder die vor kürzerer Zeit stattgefundene Entdeckung des Higgs-Boson, eines subatomaren Teilchens, das Wissenschaftler als grundlegend für das Verständnis der Welt betrachten.
Der Europäische Rat für Kernforschung hat nicht nur eine Verbindung mit der EU, sondern viele verschiedene Anknüpfpunkte; nicht nur, weil die Mehrheit der in diesem Organ vertretenen Länder EU-Mitglieder sind, sondern auch, weil viele seiner Projekte durch EU-Forschungs-Programme finanziert werden und die beteiligten Wissenschaftler Zugang zu Beihilfen und Stipendien aus dem EU-Haushalt haben, wie den Marie Skłodowska-Curie-Stipendien und den Fördermitteln des Europäischen Forschungsrates.
Im Februar dieses Jahres machte die Nachricht von der Entdeckung eines Sonnensystems mit sieben der Erde ähnelnden Planeten in Zeitungen und Nachrichtensendungen aller Welt Furore. Die erste Ankündigung erfolgte durch die NASA und wurde in der Zeitschrift Nature veröffentlicht. Was hat Europa hier zu suchen, mögen Sie sich fragen… Sehr viel, denn der Hauptverantwortliche dieser Entdeckung ist der belgische Wissenschaftler Michaël Gillon. Sein seit 2013 mit seinem Team entwickeltes Forschungsprojekt zur Entdeckung der “Exoplaneten”, wurde durch den von EU-Mitteln getragenen Europäischen Forschungsrat finanziert. Nach seiner Entdeckung bestätigte Gillon selber, dass “diese ohne EU-Finanzierung nicht möglich gewesen wäre”. Der Name des Sonnensystems –und des Sterns, um den sich die Exoplaneten drehen –Trappist 1- gibt ebenfalls einen Hinweis auf den europäischen Hintergrund –belgisch in diesem Falle- denn er spielt auf die typischen belgischen Bierarten an, welche in den Trappisten-Klöstern gebraut wurden.
Kann ein Flugzeug um die Welt fliegen, ohne einen einzigen Tropfen fossilen Treibstoff zu verbrennen? In der Tat ist das möglich. Solar Impulse hat es bewiesen: Das Flugzeug ist im letzten Jahr 40.000km weit von Abu Dhabi aus über Indien, Myanmar, China, Japan, die USA, Europa und zurück nach Abu Dhabi nur mit Sonnenenergie geflogen. Solar Impulse ist das Projekt eines Visionärs, des Schweizers Bertrand Piccard, der seit 2008 durch Beihilfen aus verschiedenen Forschungspro-grammen von der EU unterstützt wurde. Im März dieses Jahres hat der Vizepräsident der Energie-Union der Europäischen Union Maroš Šefčovič zusammen mit Piccard ein Bündnis zur Förderung innovativer Lösungen für eine nachhaltige Zukunft präsentiert.
Wenn wir von internationalen Führungspositionen in Wissenschaft und Technologie sprechen, denken wir immer an Großmächte wie die Vereinigten Staaten oder Japan. Und die sind sicherlich auch tonangebend. Dennoch dürfen wir den Beitrag Europas zur internationalen Forschung keineswegs außer Acht lassen. Wir sind bei groß angelegten Projekten federführend, und auch in der Innovation sind wir dank gewagter, exzellenter Initiativen mit Pioniergeist in der Avantgarde. Und das ist nicht dem Zufall zu verdanken, sondern dem politischen Willen, Know-how und Forschung als Grundpfeiler unseres Wirtschaftswachstums zu fördern, im Vertrauen darauf, dass die Mensch-heit Fortschritte erzielen kann, wenn sie in der Lage ist, Grenzen zu überschreiten, und zwar sowohl die physischen als auch im Kenntnisbereich. Das bringt uns eine nachhaltigere Zukunft, eine Zukunft, in der wir die Welt um uns herum und das Universum besser verstehen und –wer weiß- Graphen-Handys mit heute nicht zu erahnenden Leistungen besitzen; eine Zukunft auf jeden Fall, in der wir weiterhin buchstäblich über unsere Grenzen gehen wollen.
von Ferran Tarradellas, Leiter der Vertretung der Europäischen Kommission in Barcelona, Twitter: @TarradellasEU
Schlagwörter: Europa, Katalonien