Die Menschheit ist zu retten
Interview mit dem Zeichner und Autor Ignasi Blanch
Ich treffe den Zeichner Ignasi Blanch im Literarischen Café der Buchhandlung Laie, das in einem der alten Herrenhäuser mit ihren typischen Bodenkacheln und Stuckaturen liegt. Wir sitzen zwischen kleinen Gruppen von Menschen, die nach Feierabend einen Aperitif zu sich nehmen und gemeinsam Tagesthemen besprechen. Ignasi Blanch stellt bei Laie sein neues Buch „Liv On“ vor, das er zusammen mit der Sängerin Olivia Newton John herausgibt und das sich mit dem Verlust geliebter Menschen musikalisch und zeichnerisch auseinandersetzt.
Können Sie uns mit ein paar Worten Ihren Lebensweg zeichnen?
Ich war ein Kind, das immer zeichnete. Ich hatte das Glück, dass mich meine Eltern immer unterstützten. Dass es heute mein Beruf ist, verdanke ich ihnen. Seit ich denken kann, zeichne ich und bin glücklich damit. Ich veröffentliche meine Zeichnungen in verschiedenen Medien: Bücher, Poster oder Schilder. Mir war immer wichtig zu reisen. Mein Aufenthalt in Berlin hat mich sehr geprägt, beson-ders auch deshalb, weil ich das Glück hatte, dort nach dem Mauerfall am East Side Gallery Projekt teilnehmen zu dürfen. Dadurch bin ich mit Deutschland sehr verbunden. Ich bin oft in Berlin und Saarbrücken. Es ist ein gutes Gefühl, sich als Teil eines anderen Landes zu fühlen als dem, in dem man aufgewachsen ist. Ich bin daran sehr gewachsen.
Foto: laiadina
East Side Gallery: Sie haben mit dem Bild Parlo d’amor daran teilgenommen.
Als die Mauer fiel, lebte ich in Berlin. Ich war noch sehr jung damals. Gerade mal 24 Jahre. Ich hatte wenig Geld, aber viel Energie für die Kunst. Ich nahm an einem öffentlichen Wettbewerb teil. Die East Side Gallery war zunächst als kurzfristiges Projekt angelegt. Jetzt ist es eine Open-Air-Galerie auf dem längsten noch erhaltenen Teilstück, das von über hundert Künstlern aus 21 Ländern bemalt wurde. Ich war einer davon. Mir ist diese Zeit sehr wichtig, weil ich Teil des sehr offenen Berlins wurde. Die Kontakte zu vielen der Künstler pflege ich noch heute.
Zu der Zeit wurde sehr viel Geld in kulturelle Projekte investiert. Man stellte zum Beispiel in einer alten Fabrik oder Wohnung in Ost-Berlin aus. Es wurde im Tip oder Zitty angekündigt und die Leute kamen, um dich zu sehen. So etwas hatte es in Barcelona oder Madrid nicht gegeben. Die alternative Bewegung in Berlin fließt zwischen zwei Toleranz-polen, die es in Katalonien nicht gibt. Kultur hat hier eine sehr hohe Qualität, aber wird eben auch sehr bürokratisch und durch die Verwaltung kontrolliert. In Berlin dagegen gab es ein Klima des Vertrauens in diesen Zirkeln. Das hängt auch mit der Nachkriegsgeschichte zusammen. Viele Künstler arbeiten außerhalb des offiziellen Netzwerkes von Museen und Privatgalerien. Das wurde von der Stadt gefördert. Ideen, Ausstellungen, Straßenevents oder Performances, die in WGs oder anderen Kollektiven entstanden, durften in öffentlichen Räumen umgesetzt werden. Das war für mich ganz neu. Das kannte ich nicht mal aus Barcelona. Berlin hatte – und hat – etwas ganz Spezielles.
Die Mauer von Berlin ist vor fast 30 Jahren gefallen. Sind auch die Mauern zwischen den europäischen Künstlern gefallen?
Ich glaube, dass es nie Mauern zwischen Künstlern gegeben hat. Der ständige Kampf ist eher zwischen der Wirklichkeit und dem Wunsch, die eigenen künstle-rischen Pläne zu realisieren. Das ist die Mauer: wie kann man sein künstlerisches Ideal leben? Aus dem Konventionellen rausgehen auf eine parallele Avenue. Es ist nicht einfach, über die Jahre zu bestehen und von deinen Arbeiten zu leben. Zum einen in finanzieller Hinsicht und zum anderen hinsichtlich der Glaubwürdigkeit. Man muss sich seiner sehr sicher sein und besonders wichtig ist, sehr, sehr viel zu arbeiten. Ich glaube, darin liegt das Geheimnis. Viel, viel Anstrengung.
Wie gelingt eine innovative Kreativität?
Jeder Künstler hat seine eigene Methode. Ich lasse mich zum Beispiel von der Choreographin Pina Bausch inspirieren. Ich habe ihre Balletts unzählige Male gesehen. Es gefällt mir sehr, zu sehen, wie sie denkt oder arbeitet, wie sie ihren Diskurs erarbeitet und auch eine Disziplin lebt. Disziplin ist für mich sehr wichtig. Sie ist essentiell für einen Künstler. Ich vergleiche mich mit einem Tänzer: Ein Tänzer muss üben, üben, üben. Er kann nicht einfach improvisieren. Er muss hart an seiner Technik und seinem Ausdruck arbeiten.
Wichtig ist es auch, eine Botschaft zu haben. Man muss lesen und reisen, sich mit anderen austauschen. Sonst hat man nichts zu erzählen. Aber Leute, die nur erzählen und nicht arbeiten, gefallen mir nicht.
Wir beobachten wachsende populistische Kräfte in Europa. Hat die Kunst ihre Rolle nicht richtig gespielt?
Kunst spielt eine wichtige Rolle. Aber die Akzeptanz von Kunst ist in verschiedenen Ländern unterschiedlich. Ich bin natürlich gegen populistische Umtriebe. Kulturelle und künstlerische Vielfalt bereichern das Leben. Ich als Künstler denke, dass es ein Fehler ist, dass in manchen Ländern der Kunst- und Musikunterricht immer weiter in den Hintergrund gerückt werden. Wie es in Spanien geschieht. Es gibt im offiziellen Stundenkanon immer weniger Musik- und Kunststunden. In Deutschland ist das etwas Grundlegendes. Meine deutschen Freunde trennen auch sehr klar zwischen der Arbeit und der Freizeit. Wenn sie in Urlaub sind, dann genießen sie es voll. Sie fahren aufs Land, in die Natur und genießen es einfach. Wenn sie arbeiten, sind sie sehr diszipliniert. Sie bewahren ihre Werte, die man hier manchmal verloren glaubt. Eine Gesellschaft auch durch die Kunst zu gestalten, erleichtert das Miteinander, die Auseinandersetzung und erzeugt einen flexibleren Blick. Künstler sollten dafür wertgeschätzt werden. Für mich ist es fundamental, näher bei den Menschen zu sein. Wir schlagen Projekte vor, wollen Emotionen teilen und sind neugierig.
In der Gesellschaft werden wir Künstler respektiert, aber manchmal auch mit Unverständnis betrachtet. Warum zeichnest du, werde ich gefragt. Warum so viel Stunden? Es ist ein ständiger Kampf. Ich arbeite Stunden um Stunden, auch ganze Wochenenden. Wenn man überleben will, muss man das machen. Das ist mein Leben. Mein Glück. Es geht nicht um Geld, sondern um Freude. Es ist der Anspruch sich selbst gegenüber. Man muss sich selbst treu sein und dem Publikum.
Europa ist in der Krise. Wie würden Sie Europa zeichnen?
Viele ältere Leute mit dem Rücken zum Betrachter, die nicht mit einander reden. Mit zugehaltenen Augen und Ohren. Wir haben ein Kommunikationsproblem. Außerdem haben wir einige Länder, die hart arbeiten und andere weniger. Wenn ich Europa zeichnen würde, würde ich es als Kommunikationsproblem darstellen.
Zeichen Sie, was Sie empfinden oder was andere empfinden?
Eine interessante Frage. Ich beobachte Menschen und meine Umwelt gern genau. Ich habe die Manie, alles intensiv zu studieren, die Verhaltensweisen, aber auch die Ideen. Ich zeichne sie dann aus meinem Blickwinkel. Ich bin kein Chronist. Ich zeichne, was ich fühle. Meine Zeichnungen sind in dieser Hinsicht sehr aufschlussreich. Wenn man sich eine meiner Zeichnungen anschaut, liest man darin, wer und wie ich bin. Wie ich fühle, was Liebe, das Leben, die Gesellschaft oder die Politik anbelangt. Ich bin sehr transparent.
In Ihren Zeichnungen fokussieren Sie Frauen und Kinder. Setzen Sie auf die Zukunft der Menschheit?
Außer meiner künstlerischen Arbeit, mit der ich meinen Lebensunterhalt verdiene, kümmere ich mich auch viel um Gesell schaftliches. Ich kooperiere mit Schulen oder auch mit dem Buch von Olivia Newton-John, in dem es um Menschen geht, die an Krebs leiden. Ich glaube fest, dass die Menschheit zu retten ist. Wenn man der eigenen Arbeit einen größeren sozialen Blickwinkel einräumte, dann wäre es leichter. Mein Sandkorn ist nur sehr klein. Ich und meine Schüler fühlen uns besser, wenn wir Krankenhäuser bunter gestalten, weil die Patienten sich besser fühlen. Ein krankes Kind kann man einen Moment mit einem Clown erfreuen, aber wenn das ganze Zimmer und das Gebäude freundlicher gestaltet ist, dann trägt das noch mehr zu seinem Wohlbefinden bei. Wenn ein Kind Dich anlächelt, dann ist das eine Belohnung. Wenn wir uns alle etwas mehr sozial einbringen würden, dann wäre das Leben für alle angenehmer.
Sind Frauen in Ihren Zeichnungen die Subjekte oder Symbole? Einige Frauen fliegen wie bei Chagall.
Chagall? So habe ich das noch nicht gesehen. Er lacht. Viele Frauen in meinen Zeichnungen sind eine Hommage an die Frauen der Nachkriegsgeneration in Spanien. Sie haben die Kinder großgezo-gen und das Haus besorgt, sich um die Familie gekümmert, einige dieser Frauen arbeiteten zudem außer Haus und haben trotz schwieriger Bedingungen Behaglich-keit geschaffen. Ich erinnere mich oft an meine Mutter. Sie hatte fünf Kinder, gab Unterricht, war gesundheitlich aber angeschlagen. Die Erinnerung an diese starke, mutige Frau – ohne in Stereotypen zu fallen – mit ihrem Charisma und Talent beeinflusst mich. Sie hat zu ihren Werten gestanden und sie umgesetzt. Die Frauen in meiner Kindheit waren Kämpferinnen, die nicht aufgaben. Die Welt ist leider sehr machistisch geblieben. Das nervt mich. Dominante, intolerante, wenig flexible Männer sind nur schwer zu ertragen. Der feminine Charakter gefällt mir wesentlich besser. Frauen – und das ist kein Klischee – sind an vielen Stellen gleichzeitig aktiv: in der Arbeit, zu Hause, in der Familie, sie sorgen sich um sich selbst und um andere. Ich gehe noch weiter in meinen Gedanken: Es gibt zu viele Männer an der Macht. Gäbe es in Europa mehr Frauen auf wichtigen Posten, ginge es Europa wesentlich besser. Es wäre perfekt, wäre das Verteilungsverhältnis ausgeglichener.
Ein Jahr #MeToo-Debatte, hat es etwas in Gang gesetzt? Welche Beispiele gibt es in Spanien?
Es ist eine wichtige Bewegung. Allerdings sind wir in Spanien sehr spät dran. Es gibt so viele Gewaltverbrechen gegen Frauen. Wir benötigen ein wesentlich schlagkräftigeres, globales und gemeinsames Engagement von Frauen und Männern. Es gibt Feministinnen, die nur Frauen akzeptieren. Ich als Mann möchte nicht in einen Topf mit frauenfeindlichen Aggressoren geworfen werden.
Sie sind sehr aktiv. Kann ein Künstler heute gut leben?
Das hängt von seinen Werten und seinem gewünschten Lebensstandard ab. Man kann davon leben. Gut? Das ist relativ. Wir, die wir auf dem Land aufgewachsen sind, können meist dorthin zurück, wo wir geboren sind. Da können wir uns oft in ein einfaches Haus mit Garten mit wenig Ausgaben zurückziehen. Wir haben Ruhe. Das kann aber nicht jeder. Ich glaube aber, dass jeder der viel arbeitet, davon leben kann. Es braucht Engagement und eine Botschaft.
Sie haben ein neues Buch herausgebracht.
Das war ein sehr wichtiges Projekt für mich. Ich lernte die Schauspielerin und Sängerin Olivia Newton John eher zufällig kennen. Ihr gefielen meine Zeichnungen. Sie hatte mit zwei befreundeten Sängerinnen eine CD herausgegeben, um allen die an schweren Krankheiten leiden oder Verluste erleiden, eine Hilfe zu geben. Sehr ruhige Songs mit tröstender Kraft. Ich schlug vor, daraus ein Buch mit meinen Zeichnungen zu gestalten. Wir haben es jetzt mit dem Verlagshaus Flamboyant auf Englisch/Spanisch und Englisch/Katalanisch herausgebracht. Wir hoffen, dass wir damit vielen Menschen Kraft geben können. Ein Traum wurde für uns damit Wirklichkeit.
Ignasi Blanch, wir danken für dieses sehr anregende Gespräch und wünschen viel Erfolg für das neue Buch.
Von Ina Laiadhi
Buchtipp: Liv on, Olivia Newton-John, Beth Nielsen Chapman y Amy Sky / Ignasi Blanch, mit CD, ISBN 978-84-947835-9-3
Schlagwörter: Europa, Kultur