Ein neues Zeitalter – das Anthropozän
Interview mit dem Anthropologen Aníbal G. Arregui
Aníbal G. Arregui ist Professor für Umweltanthropologie an der UB. Er hat Feldforschungsarbeiten in Amazonien und Barcelona durchgeführt.
Herr Arregui, Sie sind Anthropologe. Worin besteht Ihre Arbeit?
Die klassische Anthropologie beschäftigt sich mit dem Studium von verschiedenen Kulturen und Gesellschaften. Sie hat sich in den letzten 10 oder 20 Jahren weiterentwickelt, sodass wir uns nicht nur um den Menschen, sondern auch um andere Lebewesen kümmern. Das können Tiere, Pflanzen oder Mikroorganismen sein. Der Grund dafür ist, dass man erkannt hat, dass der menschliche Einfluss überall ist. Man kann z.B. nicht an ökologische Fragen denken, ohne an den Menschen zu denken. Deshalb arbeitet die Anthropologie immer enger mit anderen Wissenschaften zusammen. Wir studieren eigentlich den kompletten menschlichen Einfluss in der Welt.
Was hat Ihre Feldstudie in Amazonien der Anthropologie gebracht und Ihnen persönlich?
Ich habe als Doktorand meine Feldforschung in Brasilien zu Quilombos* durchgeführt. Mich interessierte, wie die Menschen dort ihre eigenen körperlichen Techniken begreifen und in die Praxis umsetzen. Mir ging es darum zu zeigen, dass es in Amazonien zwar wenige mechanische Technologie gibt [im Vergleich zu industriellen Regionen], aber dafür eine sehr effiziente körperliche Technologie. Diese afroamerikanischen Siedler im Amazonas können ohne mechanische Unterstützung nicht nur alles mit dem Körper schaffen, sondern sie verfügen über eine abstrakte Gedankenwelt zu ihren Techniken. Es geht nicht nur um praktisch anwendbare Techniken, sondern um deren Abstraktion. Die Beschreibungen der Techniken sind eine Äquivalenz zur Theorie. Ein Beispiel: wenn sie auf einen Baum klettern, dann machen sie das nicht einfach spontan und brauchen nur Kraft, sondern zugrunde liegt eine Theorie, wie man das man besten macht. In meiner Dissertation ging es also darum, zu zeigen, dass das, was wir „Technologie“ nennen, nicht nur die Art von modernster Technologie umfasst, die wir im Westen im Kopf haben, bei der wir meistens an Dinge wie Smartphones, Touchscreens etc. denken. Technologie kann etwas viel Essentielleres sein, das auch eine körperliche Fähigkeit und Abstraktionsfähigkeit umfasst. Für die allgemeine Anthropologie ist das eine Kritik an der westlichen Idee von Technologie, man muss Technologie auch im Kontext erfassen.
Früher sprach man oft von primitiven Völkern, die vom Westen so deklassiert wurden.
Die Anthropologie hat schon Anfang des 20. Jahrhundert diese Evolutionstheorie kritisiert. In unserer Wissenschaft spricht man heute nicht von primitiven Völkern. Es wurde auch gesagt, dass sie keine Technologie haben. Man vereinfachte andere Lebensformen oder Gesellschaften. Das kritisiere ich. Technik gibt es überall, aber in unterschiedlicher, technologischer Komplexität ausgeprägt. Man muss sie auf gleicher Ebene betrachten. Nicht unbedingt: Wir sind entwickelt und sie sollten sich in unsere Richtung entwickeln. Vielleicht ist es eher umgekehrt. Die Anthropologie und andere Wissenschaften finden es immer sinnvoller, dass die westliche, kapitalistische Gesellschaft sich dessen bewusst wird, dass sie in eine andere Richtung denken sollte. Unser Modell ist nachweislich ökologisch nicht nachhaltig. Wir machen unsere Welt kaputt, andere Gesellschaften dagegen nicht. Wer ist langfristig effizienter? Eigentlich müssten wir uns in ihre Richtung entwickeln. Theoretisch ist das einfach zu sagen, –er lacht-, aber nicht so leicht politisch und wirtschaftlich umzusetzen.
Sie forschen momentan zum Auftreten von Wildschweinen in unserer näheren Umgebung. Warum haben Sie sich Wildschweine als Forschungsprojekt ausgesucht?
Es gibt einen persönlichen Grund dafür. Feldforschung in Amazonien war cool, als ich keine eigene Familie hatte, denn ich konnte monatelange dortbleiben. Das wurde schwieriger mit meinem ersten Sohn, der vor 8 Jahren geboren wurde. Deshalb habe ich mir ein Projekt bei Barcelona ausgesucht. Zum anderen ist das Auftreten von Wildschweinen im urbanen Raum ein Symptom einer bedeutenden ökologischen Veränderung. Es ist eine Veränderung auf verschiedenen Ebenen. Die Spezies Wildschwein wird vom Klimawandel positiv beeinflusst, denn je wärmer die Winter sind, desto schneller wachsen die Populationen. Sie vermehren sich in einer höheren Ratio als sonst. Man kann das mit den Quallen vergleichen, die sich im wärmeren Wasser schneller vermehren. Menschen beeinflussen also indirekt die Wildschweinpopulationen durch den Klimawandel. Auf lokaler Ebene in Barcelona können wir erleben, dass Besucher der Waldgebiete der Peripherie die Wildschweine inzwischen füttern. Dadurch wird der andere Effekt noch verstärkt. Für uns Anthropologen ist es also interessant, weil die Spezies sich ganz klar durch menschliche Aktionen verändert. Es ändert sich in zwei Richtungen: zum einen das Habitat der Wildschweine und ihr Verhalten gegenüber Menschen. Und zum anderen wie sich nun wieder Menschen an die neue Situation anpassen und was sie tun. Das erforsche ich. Die Vorstellung vom Leben in der Stadt ändert sich, denn auch sogenannte wilde Tiere werden dort vorkommen.
Die Anthropologie hat keine Grenzen im Vergleich zu anderen Wissenschaften. Ist das positiv oder negativ?
Negativ ist, dass es manchmal schwer ist, sich auf etwas zu fokussieren. Denn laut der Anthropologie ist alles mit allem verbunden. Der menschliche Einfluss ist sehr vielfältig. Wie begrenze ich also mein Forschungsobjekt?
Positiv ist, dass die Anthropologie in allen anderen Wissenschaften benötigt wird. Wir arbeiten interdisziplinär. Ich kann die Wildschweinpopulationen nicht untersuchen, ohne den menschlichen Einfluss einzubeziehen. Der Austausch mit anderen Wissenschaftlern wie z.B. Biologen oder Ökologen ist sehr aufschlussreich, denn sie wissen, dass sie den menschlichen Faktor einbeziehen müssen.
Viele wissenschaftliche Disziplinen wie Biologie oder Geschichte schlagen vor, die Epoche, die gerade Holozän heißt, in Anthropozän** umzubenennen, weil der menschliche Einfluss auf die Umwelt so wichtig ist. Der Name Anthropozän zeigt, dass die Anthropologie viel zu tun hat. Alle Wissenschaftsbereiche brauchen diesen „Anthropos“-Anteil.
Wie hoch ist der Anteil an Frauen in der Anthropologie? Prozentsatz?
Das ist eine sehr gute Frage. Ich kann das statistisch nicht sagen. Allerdings gibt es zum Glück heutzutage viele Anthropologinnen, die stark und prominent in meinem Bereich der Umweltanthropologie sind. Renommierte Sozialwissenschaftlerinnen beschäftigen sich mit Tieren, Pflanzen, Pilzen und auch Mikroorganismen. Andererseits halte ich momentan eine Vorlesung zur Geschichte der Anthropologie an der Universität Barcelona. In der Periode, die bis ca. zum Ende des 2. Weltkriegs geht, finden sich kaum Anthropologinnen. Wie in anderen Wissenschaften waren die Anfänge sehr von Männern geprägt. Ich habe aber das Gefühl, dass Frauen inzwischen eine wichtige Rolle spielen.
Zum Beispiel, im CCCB läuft gerade die Ausstellung Sciencia Fricció, wo unter anderem die Forschungen der bekannten amerikanischen Anthropologin und Philosophin Donna Haraways in einem Video detailliert aufgezeigt werden.
Glauben Sie, dass das Wirken von Frauen in der Anthropologie die Entwicklung der Stellung der Frau fördert?
Ja, es gibt einen zentralen Bereich in der Anthropologie, das sind die sogenannten Gender Studies. Dort geht es unter anderen darum, die Ungleichheiten in der Arbeitswelt, Migration, oder auf der häuslichen Ebene zu erforschen. Anthropologen untersuchen auch mit feministischen Ansätzen kulturelle und institutionelle Faktoren, die die Gewalt gegen Frauen fördern. Vieles hat mit Machismo zu tun, was nicht immer so evident ist. In diesen subtileren Fällen von Unterordnung der Frauen in der Gesellschaft sind anthropologische Methoden zur Visualisierung des Problems geeignet. Denn wir können die alltäglichen und anscheinend „harmlosen“ Interaktionen zwischen Männern und Frauen als Zeichen oder als Teil der bestehenden Ungleichheit in der Gesellschaft beschreiben.
Gibt es eine europäische Anthropologie?
Im deutschsprachigen Raum gibt es sie. So weit ich das weiß, hat das mit einer folkloristischen Ansicht von Anthropologie zu tun. Es gibt eine Europäische Gesellschaft für Anthropologie, die alle zwei Jahre eine internationale Konferenz ausrichtet, wo wir Anthropologen unsere Forschungsergebnisse präsentieren und uns austauschen. Das ist ein sehr wichtiges Dialogelement.
Die Wissenschaft bleibt eine Domäne der Eliten. Auch in der Anthropologie? Gibt es eine Möglichkeit, sie zu demokratisieren?
Eigentlich kann jeder Anthropologie studieren. In dem Sinne ist es keine Elitewissenschaft. Im Akademiebereich findet die Diskussion natürlich auf einer Ebene statt, die von Personen nicht verstanden wird, die sich nicht intensiv damit auseinandergesetzt haben. Für mich wäre es wichtig, dass man Anthropologie schon in der Schule als Fach hat. Wir haben Philosophie, das ist gut. Human- und Sozialwissenschaften sollten jedoch eine noch größere Präsenz haben.
Eine andere Strategie könnte sein, mehr Anthropologen in den Medien als Experten sichtbar zu machen, um am allgemeinen Diskurs teilzunehmen. Ein Pro-blem dabei könnte sein, dass unsere Meinungen zu mehr Komplexität und nicht zu schnelleren Lösungen führen würden. Denn unsere Lösungsvorschläge implizieren immer gesellschaftliche Änderungen. Technische Änderungen sind immer einfacher umzusetzen als soziale. Das sollten wir Sozialwissenschaftler immer machen: die eigenen Ideen und Forschungsergebnisse auf eine einfachere Weise weiterzugeben, so dass soziale Strategien auch eine wichtigere Rolle in der Politik spielen.
Sie sind viel gereist und haben viele Menschen getroffen. Und auch Tiere. Haben Sie eine Anekdote für unsere Leser?
Ja, ich erzähle diese Anekdote gern anderen Anthropologen. Ich habe früher geraucht. In Amazonien war ich mit einem Fischer wochenlang unterwegs, der auch viel geraucht hat. Wir haben unsere Zigaretten selbst gerollt. Irgendwann ging uns das Zigarettenpapier aus. Und da fielen dem Fischer meine Notizbücher ins Auge, in die ich meine Ergebnisse und Beobachtungen eintrug. Er schlug vor, dass wir einige Seiten nehmen sollten. Ich hatte fast schon auf alle Seiten Notizen eingetragen. Aber wir kamen an diesen Punkt, und ich entschied, dass es mir wichtiger war, mit dem Mann weiter ein gutes Verhältnis zu haben, als meine Ergebnisse in dieser Form zu bewahren. Und so haben wir einige Seiten von meinen Feldbüchern verraucht. Er lacht.
Vielen Dank, Herr Arregui für das sehr interessante Gespräch.
Ina Laiadhi, November 2021
Infos
https://www.ub.edu/portal/web/dp-antropologia/anibal-garcia-arregui
*Als Quilombo bezeichnet man in Lateinamerika politisch organisierte Orte oder Ansammlungen von Maroon-Sklaven, die sich aus der Sklaverei emanzipiert haben
**Der Ausdruck Anthropozän (zu Altgriechisch ánthropos, deutsch ‚Mensch‘ und καινός ‚neu‘) entstand als Vorschlag zur Benennung einer neuen geochronologischen Epoche: nämlich des Zeitalters, in dem der Mensch zu einem der wichtigsten Einflussfaktoren auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde geworden ist.
Schlagwörter: Moderne Welt