Interview mit Dr. Beate Winkler, Künstlerin und Menschenrechtlerin
Das Freie wird zum Wesen der Kunst
Ich treffe meine Interviewpartnerin in der großzügigen Eingangshalle des Goethe-Instituts, wo gelbe Sitzsäcke, Zeitungen, Kultur-prospekte und ein „Nimm mich mit“- Bücherwagen zum Stöbern einladen. Beate Winkler nimmt an einem Podiumsgespräch mit der Künstlerin Francesca Llopis unter dem Motto „Kunst als Instrument des Dialogs in Zeiten des Wandels“ teil.
Sie haben von 1998 bis 2008 als erste Frau eine europäische Agentur geleitet: Die Agentur zur Beobachtung von Rassismus und Fremden-feindlichkeit (EUMC) in Wien, die während Ihres Mandats zur EU-Grundrechtsagentur ausgeweitet wurde. Danach haben Sie sich der Kunst zugewandt. Warum gerade die Kunst?
Es ist auch eine Kunst, eine Lebens-kunst, sich mit Fragen von Fremden-feindlichkeit und Rassismus auseinanderzusetzen. Meinem Team und mir ist es zusammen mit anderen beteiligten Organisationen damals gelungen, diese Agentur in die europäische Grundrechtsagentur auszuweiten. Der Name Rassismus und Fremdenfeindlichkeit und dazu noch Beobachtungsstelle – wer wird denn schon gerne beobachtet? Big Mother ist watching you – war nicht attraktiv. Sie lacht. Wir haben es positiv erweitert auf interkulturelle Kompetenz. Denn entweder kann das Fremde, das Faszinierende das Erweiternde sein, oder es macht Angst. Das ist eigentlich nie entschieden. Es ist eine Frage der persönlichen Kompetenz, der Fähigkeit, der Perspektive, ob das Positive überwiegt oder das Bedrohliche.
Um auf Ihre Frage zurückzukommen, warum Kunst? Also einmal hat mich die Kunst von Beginn meines Lebens an begleitet und war immer ein Teil meines Lebens und wird es sicherlich auch bleiben. Was mich bei der Kunst so fasziniert, sind mehrere Dinge. Es gibt kein Gebiet, das sich so positiv mit Fremdheit auseinandersetzt. Die Kunst ist immer etwas Neues. Das weiße Blatt Papier, das ich noch nicht kenne, ist das Wesen der Kunst, des Perspektiven-wechsels. Ich kann ein Bild drehen und schon sieht es anders aus. Es geht um Kreativität. Und Ressource. Es geht darum, sich auf Prozesse einzulassen, die man manchmal nur begrenzt steuern kann. All das brauchen wir jetzt.
Die Kunst hat etwas, was mir besonders kostbar ist, sie kann etwas ganz Spielerisches haben. Sie kann total nutzlos sein, und nur schön oder hässlich. Kunst muss nicht immer irgendetwas können. Das Freie wird zum Wesen der Kunst. Wenn man in einem solchen politischen Battlefield steckt, wie ich es über viele Jahre getan habe, dann ist sie, dieser Zugang zum Leben, ein Geschenk.
Was bedeutet Kunst für Sie?
Inhalt. Mein eigener Inhalt. Teil meines Lebensinhaltes. Es kann aber auch Kommunikationsmittel sein. Kunst ist immer auch Dialog. Sie will betrachtet werden. Kunst ist im Entstehungs-prozess schon Dialog. Wie antworte ich auf das, was mir als Künstlerin entgegenkommt. Was mache ich daraus? Wie gehe ich mit den Produkten um? Und wie rede ich darüber? Es ist ein Bündel von Dingen, was Kunst sein kann.
Kann sich Kunst in ein Instrument des Friedens und des interkulturellen Dialogs verwandeln?
Ja, immer. Es ist eine Möglichkeit des Dialogs. Auch deshalb, weil es ein Gespräch auf gleicher Augenhöhe ermöglicht. In dem Moment, wo Kunst zu missionarisch wird, wenn Kunst versucht zu manipulieren, dann kommen wir in sehr umstrittene Felder. Die Kunst ist ja auch missbraucht worden. Man kann mit Kunst ohne Zweifel manipulieren.
Glauben Sie, dass Kunst die Welt oder eine Welt verändern kann?
Sie lacht: Manchmal kann ein Schmetterlingsschlag die Welt verändern. Mir geht es darum, die Möglichkeiten der Kunst in einen gesellschaftspolitischen Kontext zu setzen. Wir sind, und ich glaube, das spürt fast jeder, in einer sehr ungewissen und für viele sehr bedrohlichen Situation. Das sehe ich verstärkt durch den Krieg in der Ukraine und durch Covid19, weil das Entwicklungen sind und waren, die keiner von uns vorhergesehen hat. Aber auch durch andere Veränderungsprozesse, mit denen wir konfrontiert sind. Das ist Digitalisierung, das ist Klimawandel, das ist Migration. Wir spüren, die alte Welt verschwindet und die neue ist noch nicht da. In einer solchen Situation braucht man Visionen, braucht man Bilder von einer Zukunft, die attraktiver sind als die Abwehr, die mit der Veränderung einhergeht. Und man braucht Vertrauen, Kreativität und ein neues Denken. Wir dürfen nicht die Antworten von gestern auf die Fragen von heute geben oder mit den Mitteln versuchen, Probleme zu lösen, mit denen die Probleme entstanden sind. Wir müssen neu denken. Deswegen verbinden wir Kunst mit sozialem Dialog. Ich habe schon mehrfach Projekte durchgeführt, in denen die Kunst der Ort der Inspiration war. Im Raum der Kunst fanden Workshops statt um Fragen, wie wir in Zukunft zusammenleben wollen. Im Bereich von Wirtschaft, Globalisierung, Nach-haltigkeit oder auf kulturellem Gebiet. Wir brauchen neue Formen des Dialogs und des Zusammenwirkens, denn mit Blick auf den eigenen Bauchnabel und in unseren Echokammern können wir die Probleme, mit denen wir konfrontiert sind, sicherlich nicht lösen.
Wie setzen wir das um? Ja, meine Ausstellung – und in meiner Kunst geht es auch um die Kunst der Möglichkeit – ist der Ort, an dem Workshops zu unterschiedlichen Themenbereichen stattfinden. In der Regel erläutere ich am Anfang, worum es jetzt geht, warum wir neue Zukunftsbilder brauchen und welche Bedeutung die Kunst dabei hat. Die Workshops befassen sich mit Themen wie: Zukunftsbilder für ein neues WIR im Bereich von Bildung, Wirtschaft, Sozialem, etc. Es werden Projekte vorgestellt, die beispielgebend für eine Lösung sind und Lösungsvorschläge werden erarbeitet. Alles wird dokumentiert. Parallel mache ich Interaktionen mit Besucherinnen und Besuchern und bitte sie, ihren Traum von einem neuen WIR auf ein kleines Bild zu malen oder zu schreiben. Alles wird dann auf einer Wand installiert. Man kann das Projekt auch erweitern um andere künstlerische Projekte oder neue Netzwerke zwischen unter-schiedlichen Organisationen. Meine bisherigen Erfahrungen in Berlin, Warschau und Temeswar im Kontext der Kulturhauptstadt von Europa sind sehr, sehr positiv. Es ist ein europäisches Projekt, das regional wirkt.
Welche Rolle spielt die Frau in der Kunst?
Eine ganz besonders starke, weil Frauen einen in der Regel viel breiteren Blick haben, Männer sind strategischer unterwegs, 1, 2, 3 Ziele und das war‘s. Frauen schauen aufgrund der eigenen Sozialisation viel stärker auf das System und betrachten alles nochmal von anderen Ebenen aus. Auch weil wir eine politische Kultur haben, in der Emotionen nicht wahrgenommen oder geschätzt werden. Man versucht die Menschen durch riesige Informationspakete zu erreichen, aber nicht durch Emotionen. Unser Verhalten und unsere Entscheidungen werden jedoch viel stärker durch Emotionen geprägt als durch irgendetwas anderes. Mit unseren vielfachen Maßnahmen gehen wir an dem, was eigentlich gefordert ist, glatt vorbei. Da kommt wieder die Kunst mit rein, weil sie auch emotional ist, weil man sich über sie aufregt. Es geht auch um Chancengerechtigkeit für Frauen und andere Gruppen, nicht um einen Kampf der Geschlechter. Es geht nur gemeinsam. Wir brauchen ein neues WIR und neue Formen, die Kunst mit anderen Lebensbereichen viel stärker verbinden.
Im Juni ist die portugiesische Malerin Paula Rego verstorben. Können Sie Ihre Gedanken zu ihr mit uns teilen?
Sie ist mir zu wenig vertraut, um etwas Substantielles dazu sagen zu können.
Glauben Sie, dass Künstler einen Impfstoff gegen das Virus des Rassismus entwickeln können?
Wenn das so leicht wäre… Leider nein. Impfstoffe gibt es dagegen nicht. Man muss sich Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen (frei nach Albert Camus), um in diesem Feld zu wirken. Fremdenangst gehört zu jedem Menschen. Aber es ist ein großer Unterschied, ob man Angst hat oder die Angst einen hat. Von daher muss man Menschen dabei unterstützen, dass sie mit dem Fremden kreativ umgehen. Das Fremde kann das Faszinierende sein und nicht das Abzuwehrende. Fremdenangst darf nicht als Fremdenfeindlichkeit abgestempelt werden. Man muss in den Dialog gehen.
Wie sind Sie zu den Menschenrechten gekommen?
Das hat sehr viel mit meiner Biografie zu tun. Der Krieg in der Ukraine hat mir noch mal deutlich gemacht, wie stark meine berufliche Entscheidung mit meinem Lebensweg verbunden war. Als Kind bin ich mit meinen Eltern aus der DDR geflohen. Ich habe erfahren, was es heißt, wenn man alles von einem Tag auf den anderen verliert und auch nicht zurück kann. Und ich habe auch die Verunsicherung der Eltern miterlebt, die meinten, in den goldenen Westen zu kommen, und die Welt dort war aber viel härter. Ein weiterer Grund war, dass mein Großvater acht Jahre im Gulag war, weil er sich für Freiheit eingesetzt hatte. Das wurde später als Fehlurteil anerkannt. Diese Erfahrungen haben mein Leben sehr geprägt.
Gibt es wirklich die Grundrechte? Sind sie nicht immer in Bewegung? Gerade in der Pandemie sind wir eingeschränkt worden, was zu vielen Protesten geführt hat. Gibt es ein Recht auf Information?
Natürlich. Es gibt ein Recht auf Information, ein Recht auf Eigentum, ein Recht auf freie Bewegung. Die Grundrechte sind die Menschenrechte der europäischen Union. Sie heißen Grundrechte und nicht Menschenrechte, weil im Französischen Menschenrechte „Droits de l’homme“ heißen. „L’Homme“ ist der Mann, nicht die Frau. Die Franzosen haben sich dagegen gewehrt, dass die europäische Grundrechtscharta „Menschenrechtscharta“, „Charte de l‘homme“ heißt.
Die Grundrechte gelten nie unbeschränkt. Sie enden immer an den Rechten der anderen. Sie beinhalten auch Abwägung: Mein Eigentum hat auch eine soziale Verpflichtung. Wenn durch meine Freiheit die Gesundheit von anderen gefährdet wird, dann kann meine Meinungsfreiheit oder Bewe-gungsfreiheit auch eingeschränkt werden. Das sind mühsame Verhandlungsprozesse. Das ist das Anstrengende der Demokratie. Demokratie muss immer verhandelt werden und ist letztendlich immer eine Frage des Kompromisses. Anstrengend und langwierig. Deshalb sind Demokratien vermeintlich häufig autoritären Systemen unterlegen, weil sie langsamer sind. Aber das sind sie nicht. Wir haben ganz andere Möglichkeiten der Mitwirkung und der Beteiligung von Menschen, der Entfaltung von Begabung als autoritäre Regime. Demokratien sind autoritären Systemen überlegen.
Sind Sie für Kunst in Museen oder auf der Straße?
Ich bin für beides. Ich bin für ein UND und nicht für ein ODER. Wir denken häufig in ODER. Ich bin eindeutig für das UND. Sie lacht. Schwarz oder Weiß, nein, beides gleichzeitig, und es kann auch die faszinierende Farbe Grau sein.
Wenn Sie 40 Jahre zurückgehen, was würden Sie Beate sagen?
Zweifele weniger an dir selbst! Es ist ein immenses Frauenproblem, dass Frauen sich häufiger erstmal etwas beweisen müssen, während man Männern erst einmal etwas zutraut. Frauen haben zum Teil viel zu harte Kriterien, gegen sich selber, aber auch gegenüber anderen Frauen. Also komm Beate: Geh Deinen Weg. Höre auf dich und deine innere Stimme. Nimm auch die anderen wahr. Vertraue darauf: eine Tür geht zu, aber eine andere geht dafür auf.
Frau Dr. Winkler, vielen Dank für den sehr anregenden Gedankenaustausch.
Ina Laiadhi, Juni 2022
Infos
www.Beate-Winkler.net
Im Zentrum der Aktivitäten von Beate Winkler steht zur Zeit ihr Engagement für die „Initiative Digitalisierung Chancengerecht“, https://www.idc.vision
Schlagwörter: Frauen, Interviews, Kultur, Moderne Welt