Kultur ist die Verbindung zwischen dem Ich und dem Wir
Interview mit Judith Carrera, Direktorin CCCB
Judith Carrera, seit 2018 Direktorin des Centre de Cultura Contemporànea de Barcelona (CCCB), entwickelt seit 20 Jahren Konferenzen, Debatten und Bildungsaktivitäten. Sie leitet den Europäischen Preis für den städtischen, öffentlichen Raum. In Paris arbeitete sie bei der UNESCO. Danach im UNESCO-Zentrum von Katalonien, beim Forum 2004 und in der Abteilung für internationale Beziehungen der Stadtverwaltung von Barcelona.
Wir treffen uns im Pati de les Dones, Schauplatz vieler Aktivitäten des Zentrums, wo es an diesem warmen Novembermorgen lebhaft zugeht: 3 junge Frauen üben eine Choreographie vor Spiegelfenstern, ein Interview wird gefilmt, eine Gruppe einheimischer Touristen lauscht ihrem Reiseführer, viele Menschen gehen durch den Innenhof.
Frau Carrera, stellen Sie uns bitte das CCCB mit ein paar Worten vor.
Das CCCB ist ein multidisziplinäres Kulturzentrum, das sich der kritischen Debatte zu wesentlichen Themen der Zeit widmet. Es tut dies durch große Ausstellungen, Literaturfestivals, Filmfestivals, unabhängige Videos, Vorträge und Bildungsdebatten und -programme.
An welches Publikum wendet es sich?
Es richtet sich an ein sehr vielfältiges Publikum. Das ist unsere Stärke. Da wir keinem bestimmten Gremium unterstehen, sind wir mit akademischer, wissenschaftlicher, kreativer oder kultureller Stringenz offen für die breite Öffentlichkeit. Kultur ist ein Instrument zur Förderung des sozialen Zusammenhalts und der Integration in die Gesellschaft.
Das CCCB liegt wie das MACBA im historischen Stadtteil Raval. Sind seine Bewohner am Angebot des Zentrums interessiert?
Wir sind kein Museum. Wir haben keine Sammlung. In diesem Sinne ist es ein einzigartiges und besonderes Zentrum. Sein Handlungsspielraum ist multidisziplinär. Wir fördern den direkten Kontext zum Umfeld. Das CCCB wurde 1984 im Distrikt Raval, im ehemaligen Haus einer Wohltätigkeitsorganisation der „Casa de la caridad“ gegründet. Im Gebäude war ein Waisenhaus untergebracht, das in ein Kulturzentrum umgewandelt wurde, wobei die Struktur des Ursprungsgebäudes erhalten blieb. Die Verbundenheit mit dem Ort und seiner Geschichte ist sehr wertvoll. Wir sind uns bewusst, dass wir mitten im Zentrum von Barcelona sind, in einem traditionell benachteiligten Viertel der Stadt, das immer am Rande lag. Historisch gesehen bedeutet Raval „die Stadt jenseits der Mauern“. Das Viertel erlebt eine sehr tiefe, strukturelle Krise. Uns ist die wichtig, weil wir dazugehören, weil es ein öffentliches Zentrum ist. Es sind unsere nächsten Bürger. Wir haben eine Reihe von Bildungsprogrammen für die lokalen Schulen und Institute entworfen und dadurch auch das Interesse anwohnender Familien geweckt. Sie sind zunehmend in unseren Programmen präsent. Wir haben ihre Bedürfnisse analysiert. Sie sind nicht passiv, weil wir viel mit ihnen reden, ihnen zuhören und sie zu Workshops einladen.
Sie haben einmal gesagt, dass Kulturinstitutionen ihr eigenes Publikum schaffen sollten. Haben Sie das geschafft?
Ich glaube schon. Kulturzentren sollten verstehen, für wen sie arbeiten. Verstehen, dass sie nicht nur für ein Publikum arbeiten, sondern mit dem Publikum. In letzter Zeit wurde viel darüber nachgedacht, wie Institutionen das Publikum in die Programmgestaltung einbeziehen können. Die neuen Technologien haben die Art und Weise, wie wir auf Wissen zugreifen, radikal verändert. Die Zuschauer wollen nicht länger ein passives Publikum sein, das aufnimmt, was andere entscheiden, sondern sie wollen einen stärkeren partizipatorischen Ansatz. Die Stärke des CCCB liegt in seiner Fähigkeit, unterschiedliches Publikum zu mischen, Gemeinschaft zu schaffen und zu verstehen, dass es nicht nur eine Institution ist. Wir gestalten unser literarisches Programm nicht nur für Leute, die sich mit Literatur auskennen, sondern für alle. Wir erreichen eine Mischung aus einem generationenübergreifenden Publikum mit sehr unterschiedlichem Bildungshintergrund. Dieses Umfeld ist sehr wichtig. Besonders jetzt, da wir alle auf unsere kleinen sozialen und digitalen Blasen beschränkt sind. Es ist wichtig, Räume zu haben, die sich vermischen, die den Menschen bewusst machen, dass sie Teil eines größeren Raumes sind.
Was ist Kultur heute?
Sie lacht. Es gibt Tausende von Doktorarbeiten zu dieser Frage. Für mich ist Kultur diese Verbindung zwischen dem Ich und dem Wir. Es sind eher philosophische Begriffe. Die Fähigkeit, das intimere “Ich” mit einer etwas größeren Gemeinschaft in Beziehung zu setzen. Wenn wir ein Buch lesen, einen Film oder ein Theaterstück sehen, stellen wir am Ende eine Verbindung mit anderen Gesellschaften, anderen Sprachen, anderen Ländern, anderen historischen Zeiten her. Es ist eine Reise in der Welt. Kultur ist im weitesten Sinne die Fähigkeit, uns mit der Welt zu verbinden.
Bereichert oder verarmt das Auftauchen der neuen Technologien die Kultur?
Das ist eine gute Frage. Neue Technologien haben immer diese Doppelseite. Einerseits öffnen sie neue Räume für Kommunikation, Verbindung mit anderen Realitäten. Die Globalisierung brachte nicht nur die Zirkulation von Wirtschaftsgütern, sondern auch von Ideen aus und Verbindungen mit anderen Kulturen mit sich. Sie ändern die Art und Weise des Zugangs zu Wissen. Er ist praktisch unbegrenzt. Gleichzeitig hat sich aber auch gezeigt, dass die neuen Technologien ein enormes Ablenkungsinstrument sein können. Man kann sich darin abschotten. Es können Blasen entstehen, die Lügen statt der Wahrheit fördern, weil nicht genug kontrastiert wird. Es ist notwendig, die neuen Technologien als Mittel zu verstehen, nicht als Zweck. Sie können ein gutes Mittel sein, je nachdem, welche Verwendung ihnen gegeben wird.
Sie haben gesagt, das CCCB sei eine Brücke von Barcelona in die Welt. Welche Rolle spielen die Sprachen?
Für mich ist sie grundlegend. Die Mehrsprachigkeit ist eine spannende Öffnung zur Welt. In einer zweisprachigen Gesellschaft wird ständig übersetzt. Wer übersetzt, versetzt sich in die Lage der anderen Person und akzeptiert, dass es keine 100%ige Übersetzung gibt, weil in dem Prozess immer etwas verloren geht. Durch Beherrschung von Sprachen entwickeln wir die Fähigkeit zu verstehen, dass es andere Arten gibt, Dinge zu sagen, die Welt zu betrachten. Das CCCB ist von dieser mehrsprachigen Kultur geprägt. Wir publizieren in drei Sprachen. Die Vorträge werden immer in der Sprache des Autors gehalten, egal welche. Wir verfügen über Dolmetscher für die Debatten in Englisch, Französisch, Deutsch oder Chinesisch. Wir versuchen, die mehrsprachige Kultur zu fördern.
Für 2021 ist eine Aufführung der deutschen Theatergruppe Rimini Protokoll im CCCB geplant. Erzählen Sie uns davon.
Rimini Protokoll ist eines der innovativsten und bahnbrechendsten Theaterprojekte in Europa, wenn nicht sogar weltweit. Nach einem Auftritt entstand ein Dialog über die Möglichkeit, sie als Theatergruppe in die Welt der Ausstellungen zu integrieren. Die Präsenz- und die Live-Acts sind für uns sehr wichtig. Die Pandemie hat die Grenzen des Bildschirms aufgezeigt. Wir werden mit der Gruppe experimentieren, um herauszufinden, wie es ist, wenn eine Theatergruppe eine Ausstellung produziert.
Die Stimme der Frauen ist in den letzten Jahren immer lauter geworden. Wird diese Stimme gehört?
Objektiv gesehen hat sich die Präsenz von Frauenstimmen in der katalanischen Öffentlichkeit verbessert. Das Gewicht des Feminismus ist spürbar geworden, das heißt, die steigende Präsenz von Frauen in Entscheidungsgremien. Sie werden akzeptiert. Ohne Frauen gibt es keine kulturelle Aktivität. Das bedeutet nicht, dass wir Frauen in Politik, Wirtschaft oder Gesellschaft Parität erreicht haben. Wir haben noch viel vor uns. Ich denke, es hat sich verbessert, aber wir haben noch viel zu tun.
Welche Rolle spielen die jungen Menschen in Ihrem Zentrum?
Wir haben viele Aktivitäten, bei denen mehr als 60 Prozent der Personen unter 40 Jahre alt sind. Das ist viel für einen Kulturraum wie diesen. Wir arbeiten daran, uns den jungen Menschen zu nähern. Wir sind uns bewusst, dass es eine Generation ist, die in der Internet-Welt geboren wurde, und wir müssen uns doppelt anstrengen, um Aktivitäten für sie anzubieten. Es ist sehr spannend, mit jungen Leuten zu arbeiten. Auf der einen Seite projizieren wir Zukunftsthemen, die sie interessieren. Auf der anderen Seite ist es eine Möglichkeit, sich in der Stadt und unserer Gesellschaft zu verwurzeln. Wir arbeiten über die Schulen. Durch die jungen Menschen erreichen wir auch ihre Familien. So projizieren wir uns in die Zukunft. Wir haben tolle Programme mit Teenagern durchgeführt, die alle Vorurteile von mangelnder Aufmerksamkeit oder mangelndem Engagement entkräften. Im Gegenteil, es sind die hoffnungsvollsten Aktivitäten im CCCB.
Beteiligt sich die EU ausreichend an der Entwicklung der europäischen Kultur?
Es ist nie genug.
Gibt es eine europäische Kultur?
Ich glaube, es gibt eine europäische Kultur. Es ist nicht so sehr eine Essenz, denn die europäische Kultur besteht aus vielen verschiedenen europäischen Kulturen. Es ist eine Kultur im Sinne der Absicht, einige Prinzipien zu wahren, eine Realität, zu gestalten. Die Kulturen sind verbunden. Man kann es deutlich sehen, wenn man auf einen anderen Kontinent reist, zum Beispiel an der Art und Weise, wie anders Städte sind. Eine gegenseitige Anerkennung zwischen den Werten, die wichtig sind.
Glauben Sie, dass Covid19 die Kultur infiziert hat?
Es gibt immer diesen Widerspruch, dass Aussagen dazu gemacht werden, wie wichtig Kultur ist. Aber im Moment der Wahrheit ist sie nicht mehr so wichtig, weder in den Budgets noch in der politischen Entscheidungsfindung. In der Pandemie hat man es sehr deutlich gesehen. In Katalonien hat es bei keiner kulturellen Veranstaltung einen Ausbruch gegeben. Es handelt sich um einen Sektor, der schon durch die Krise von 2008 hart getroffen wurde. Jetzt ist es eine doppelte Krise in einem sehr gefährdeten Sektor. Die Pandemie beeinflusst die Art und Weise, Kultur zu gestalten. Im Moment können wir die Hälfte der Präsenzveranstaltungen nicht abhalten. Niemand weiß, wie die Kultur danach aussehen wird. Es wird sicher eine Reihe von neuen lebendigen, hybriden Formaten geben. Aber niemand weiß, wie die Rituale sozialer Interaktion aussehen werden.
Was sind Ihre Herausforderungen?
Unsere größte Herausforderung besteht darin, den Puls des kulturellen Lebens der Stadt wiederzufinden. So bald wie möglich, um nützlich zu sein, damit der Sektor nicht beschädigt wird. Es ist ein sehr umfassendes und fragiles System. Unsere Herausforderung besteht darin, den internationalen Anschluss nicht zu verlieren. Für uns sind internationale Brücken von grundlegender Bedeutung. Wir beobachten einen gewissen Rückzug in unsere Häuser.
Wir sind momentan angehalten, zu Hause zu bleiben…
Ja, die große Gefahr besteht darin, dass wir diese internationale Perspektive verlieren, die uns nicht nur bereichert, sondern uns auch erkennen lässt, dass wir völlig voneinander abhängig sind. Was auf einem kleinen Markt in China geschehen ist, kann die Welt lähmen. Die Krise hat gezeigt, dass die Globalisierung nicht vorbei ist; im Gegenteil, die Zusammenarbeit zwischen den Ländern ist wichtiger denn je.
Judith Carrera, wir danken für das sehr aufschlussreiche Gespräch.
Von Ina Laiadhi, November 2020
Infos
Centre de cultura contemporánea Barcelona
Montalegre, 5, Tel. 93 306 41 00 – www.CCCB.org -Besuche planen
Di-Do, 11h – 20h, Mo 7.12 geöffnet
Schlagwörter: Barcelona, Kultur