PAPYRUS
Die Geschichte der Welt in Büchern
Ein Buch über Bücher: das klingt nach einer ziemlich trockenen literaturwissenschaftlichen Abhandlung; man könnte denken, es wäre ein langweiliges schwieriges Buch. Doch das Gegenteil ist der Fall. Es handelt sich um ein Abenteuerbuch mit vielen Anek-doten, dramatischen Ereignissen, menschlichen Schicksalen. Ein Buch, das den mysteriösen Auf-schwung des Schreibens und den Durst nach Büchern untersucht, das Buch als Symbol des Friedens, ein Objekt gegen Vergessenheit und Zerstörung.
Die Schriftstellerin hat eine blühende Fantasie. Sie schreibt, als ob sie damals vor zwei- bis dreitausend Jahren, das heißt in der Hochzeit der ägyptischen, griechischen und römischen Kultur, dabei gewesen wäre. Ihre detaillierten Porträts von in diesen Jahrhunderten wichtigen Politikern, Denkern und Dichtern, Historikern und Theaterautoren sind so lebendig und nah, als wäre sie ihnen persönlich begegnet: Homer, Aristoteles, Platon, als ob sie sie alle kennengelernt hätte, so klug, so brillant redet Irene Vallejo über sie.
Vallejo erzählt auch von ihren Kindheitserlebnissen und persönlichen Erfahrungen. Eigentlich ist ihr voluminöses Buch mit 660 Seiten eine Liebeserklärung an die Welt des Buches. In Spanien wurde es ein Bestseller.
Es geht um die Entstehung der Bücher vor den Zeiten des Buchdrucks auf Papier, ihre Herstellung aus Papyrus, also aus Binsen, Pergament oder speziell gegerbten Tierhäuten. Leb-haft und anspielungsreich schildert sie die Bedeutung und den Einfluss der Bücher auf Kultur, Gesellschaft und Politik: “Viel scheint sich seitdem nicht geändert zu haben. Ideen und Geschichten überdauern Generationen.”
Das Buch veränderte die gesamte Kultur des arabisch-europäischen Raumes. Bislang war alles mündlich überliefert worden, und jeder Erzähler hatte die Ereignisse, die Sagen und Mythen je nach seinem Geschmack variiert. Danach wurden Bücher abgeschrieben von los escribas, einer klei-nen privilegierten Gruppe von Menschen, die Texte kopie-ren konnten. So lag ein Text vor, der nicht mehr geändert werden konnte und somit zum festen Bestandteil der jeweili-gen Kultur wurde.
Die Autorin zieht immer wieder Parallelen zu zeitgenössi-schem Denken, zu unserer Zeit und Gesellschaft. Auch da-mals wurden Bücher verboten, gab es Buchzensur, Verfol-gung von Schriftstellern, heimliche Bibliotheken. Schon im-mer fürchteten Herrscher das freie Wort. Es überlebte in privaten heimlichen Bibliotheken, wie zum Beispiel die “Lie-beskunst” des witzigen und freimütigen Dichters Ovid, eine Art lateinisches Kamasutra, das als obszön aus Roms öffentli-chen Bibliotheken verbannt wurde.
Entscheidend für die Verbreitung des Buches, so Vallejo, war das Lesenlernen. Diese Bildung war anfangs nur den Adligen vorbehalten, aber sie wurde bereits bei den Griechen allen Bürgern angeboten. Für Frauen war sie nicht vorgesehen, obwohl Vallejo die griechische Dichterin Sappho erwähnt, die es wagte, Liebesgedichte zu schreiben. Es ist erstaunlich, dass überhaupt manche dieser Gedichte erhalten sind, denn ihre Verse galten als frivol und wurden meistens verbrannt. Männer bestimmten, welche Bücher immer wieder kopiert und überliefert wurden, also bestimmten sie weit über tau-send Jahre eine patriarchalische Kultur.
In ihrem Buch lässt die Autorin die verschwundene großarti-ge Bibliothek von Alexandria wieder auferstehen. Der Ehr-geiz und die Herausforderung von Alexander dem Großen, alle existierende Bücher der Welt unter demselben Dach zusammenzubringen war außergewöhnlich und hervorra-gend. Niemand hatte sich früher so was gewünscht. In dieser Tausende Papyrusrollen umfassenden Bibliothek in den Sprachen des europäisch-arabischen Raumes war das gesam-te Wissen der Welt versammelt. Für Besucher, so schreibt Vallejo, muss der Anblick der unendlichen Papyrusbestände ein ähnlich schwindelerregendes Gefühl ausgelöst haben wie für sie die unermesslichen Räume des Internets:
“Die Bibliothek war eine Vorbotin einer Gesellschaft, die wir als globalisiert ansehen könnten, so wie die unsere”.
Nach meiner Meinung schreibt sie auf der Seite 312 höchst-wahrscheinlich eine der brillanteste Abhandlungen des Bu-ches; sie vergleicht “old times” mit aktuellen Zeiten: Mas-senmedien und soziale Netzwerke entwickeln sich drama-tisch schnell, aber Historiker und Anthropologen erinnern uns, dass sich in der Tiefsee alles unglaublich langsam verän-dert. Wenn wir ein altes Ding (ein Buch) mit einer neuen Sache (ein Tablet) vergleichen, denken wir, dass das, was neu ist, länger dauern wird, aber es ist genau das Gegenteil. Des-wegen, allen die apokalyptischen Vorhersagen über die Zu-kunft des Buches zum Trotz: RESPEKT.
Auch wenn keiner weiß, wie viele Bücher im Laufe der Jahr-hunderte verloren gegangen sind, “so hat sich das Buch”, schreibt sie, “im Laufe der Zeit, als Langstreckenläufer erwie-sen. Kein digitaler Datenträger kann da mithalten. Im Buch spiegelt sich die ganze Welt und bewahrt sie seit seiner
Geburt für uns auf”.
Ich bin weder Philologin noch literarische Kritikerin, aber ich lese sehr gern, auch als Kind und Teenager, und ich wage zu sagen, so ein Vergnügen beim Lesen hatte ich seit Jahren nicht erlebt. Ein Meisterwerk, voller Weisheit und Optimis-mus im Rahmen dieser ungewissen Zeiten. Ein absolut uner-lässliches Lesen.
Irene Vallejo, geboren 1979 in Zaragoza, studierte klassi-sche Philologie an den Universitäten von Zaragoza und Flo-renz. Dabei entdeckte sie ihre Leidenschaft für die Antike. “Papyrus”, ihr erstes Sachbuch, wurde in Spanien ein Bestsel-ler und mit den wichtigsten Literaturpreisen des Landes ausgezeichnet (31 Ausgaben, 61 Wochen auf den literarisch erfolgreichsten Listen, 1 Million verkaufte Exemplare). Auch in ihren zahlreichen Auftritten als Gastrednerin und in wö-chentlichen Kolumnen in “El País Semanal” und “El Heraldo de Aragón” berichtet sie über ihre Passion für die Antike. Sie ist Autorin von zwei Romanen und einigen Kinderbüchern. Irene Vallejo lebt mit ihrer Familie in Zaragoza.
Von Sara Oró, April 2023
Infos
El infinito en un junco: la invención de los libros en el mundo antiguo, Siruela
(deutsch Papyrus: Die Geschichte der Welt in Büchern, dio-genes)
Schlagwörter: Kultur, Literatur