Rungholt
Die versunkene Stadt in der Nordsee
»In der Vergangenheit – […] liegt auch Rungholt. […] im Sonnenlichte mit seinen stattlichen Giebelhäusern, seinen Türmen und Mühlen. Auf allen Meeren schwammen die Schiffe von Rungholt und trugen die Schätze aller Weltteile in die Heimat“ schreibt Theodor Storm. 1871.
Rungholt, die blühende Hafenstadt wird am 16. Januar 1362 von einer tosenden Sturmflut überspült und sinkt auf den Meeresboden. Die sagenumwobene Stadt soll reich wie Rom gewesen sein und ihr Untergang eine Strafe Gottes. Eine Legende aus dem 16. Jahrhundert erzählt von betrunkenen Bauern in einem Wirtshaus, die den Prediger zu einer angeblichen Kranken zur letzten Salbung gerufen hatten. Der Prediger fand eine Sau im Bett, die betrunken grunzte. Der irre geführte Prediger wurde von den Bauern zum Mittrinken gezwungen und verhöhnt. Als er sich schließlich loslöste, habe er in der Kirche Gott um Bestrafung der Saufbrüder angerufen. In der folgenden Nacht erhob sich ein rasender Sturm, die „Manndränke“, drückte die Wassermassen an die brechenden Holzdeiche, und zerriss die Insel Nordstrand. Hunderttausende Menschen starben in den eisigen Fluten, Dörfer wurden unter den Riesenwellen begraben.
Wenngleich sich einige Legenden um Rungholt ranken, ist die Existenz von Rungholt unumstritten. Das belegen Urkunden und Schriftstücke.
Rungholt gilt als „Atlantis der Nordsee“. Der Vergleich mit dem prachtvollen mythischen Inselreich Atlantis stimmt nur teilweise. Laut minutiöser Beschreibung des griechischen Philosophen Platon soll dieses so riesig gewesen sein wie Libyen und Asien zusammen. Das reiche Atlantis soll 9600 v.Chr. nach einem misslungenen Angriff auf Athen als Rache der Götter in einer Nacht durch eine Naturkatastrophe im Mittelmeer versunken sein. Seit der Antike wird an etlichen Stellen – z.B. bei Gibraltar – nach Spuren des untergegangenen Subkontinents geforscht. Weder der Standort noch greifbare Überreste des überfluteten Reiches wurden jemals entdeckt. Das Rätsel um den sagenumwobenen Staat beflügelt seit Jahrtausenden die Phantasie von Schriftstellern, Künstlern und Filmemachern. Eine These besagt, dass Atlantis ein von Platon erdachter Mythos und eine Metapher für die Bestrafung menschlichen Gier sei.
Überschaubarer stellt sich das versunkene Rungholt dar. Archäologen schätzen, dass Rungholt im Mittelalter eine bedeutende Hafenstadt war, zumal Reste einer Schleuse im Watt gefunden wurden. Vermutlich exportierten die Bewohner Salz ins Rheinland und nach Flandern und handelten mit Wolle und Bernstein. Der Standort konnte nicht präzisiert werden, denn das Wattenmeer wandelt sich durch die Gezeiten, wird zweimal täglich überflutet und jegliches Material weg- und wieder angespült.
Vermutet wird das untergegangene Rungholt in der Nähe der Hallig Südfall. Als Entdecker des Ortes gilt Andreas Busch. Im Westen und Süden von Südfall entdeckte er ab 1921 Kulturspuren im Watt: Pfähle einer Schleuse, Brunnen, Gräben und Reste von Warften. Das archäologische Landesamt in Schleswig bestätigt Buschs Vermutungen. Der Ethnologe und Buchautor Duerr vertritt hingegen die Ansicht, dass Rungholt bereits in der Antike ein Handelszentrum war. Als Universitätsprofessor in Bremen findet er ab 1994 mit seinen Studenten Keramik, Münzen, Schmucksteine und ein Schiffswrack aus Kreta im Watt und glaubt, dass Seefahrer von Kreta bereits vor über 3.000 Jahren auf der Suche nach Bernstein in der Nordsee unterwegs waren. Eine Karte von Johannes Mejer aus dem Jahre 1652 verzeichnet das Kirchspiel nördlich von Südfall.
Das Rungholtmuseum auf Pellworm: Hellmut Bahnsen eröffnete 1980 ein privates Museum für seine Funde, die er seit 10 Jahren aus dem Watt gesammelt hatte.
Wir haben das kleine Museum auf Pellworm besucht, das eine beträchtliche Sammlung von bis zu 1800 Fundstücken umfasst. Er selbst führt durch sein Häuschen, erzählt in frischer friesischer Mundart von der Insel Pellworm, dem untergegangenen Rungholt und den unzähligen aus Ton- und Keramikscherben restaurierten Krügen und Vasen, sogar aus römischer Zeit, die er in mühevoller Kleinarbeit aus dem Wattenmeer zusammengetragen hat. Auf Pellworm ist Bahnsen absoluter Experte zur Geschichte des versunkenen Rungholts. Alle Keramikfunde wären ohne seine emsige Restaurationsarbeit verloren. Bahnens persönliche Gruppenführung durch sein kleines Museum ist außerordentlich unterhaltsam und empfehlenswert.
Noch heute erzählen die Küstenbewohner, dass man bei ruhigem Wetter Rungholts Kirchenglocken im Watt läuten hören kann. Das Geheimnis um Rungholt bleibt somit im Watt hörbar verborgen.
Von Dr. phil Evelyn Patz Sievers, Mai 2021
Literatur
Jörn Hagemeister, Rungholt. Sage und Wirklichkeit, Verlag H. Lühr & Dircks, 1991
Theodor Storm, Eine Halligfahrt,
Detlev von Liliencron: Trutz Blanke Hans, 1882
Schlagwörter: Kultur, Sehenswert