Zeitenwende, auch in Europa!
Die Länder Zentral- und Nordosteuropas stehen seit zwölf Monaten im Fokus der Medien. Grund ist der russische Angriff auf die Ukraine und die damit verbundenen Sicherheits- und Verteidigungsfragen. Polen und die baltischen Staaten helfen der Ukraine, wie sie nur können. Die dynamische wirtschaftliche Entwicklung der letzten zwanzig Jahre untermauert dabei ein gestärktes politisches Selbstbewusstsein in der Region.
Polen, mit einer Bevölkerung von 37,8 Millionen – vgl. Spanien circa 47,3 Millionen – hat bereits angekündigt, dass es die spanische Wirtschaft irgendwann überholen könnte. Gemessen am Pro-Kopf-BIP in Kaufkraftstandards (2022) ist Polen dicht auf den Fersen. Slowenien und Tschechien haben Spanien bereits überholt, Litauen und Estland sind so gut wie gleichgezogen.
Mit der fünften und größten EU-Erweiterung traten im Jahr 2004 zehn neue Mitgliedsstaaten der Union bei: Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn und Zypern. Bulgarien und Rumänien folgten im Jahr 2007, Kroatien schließlich 2013. Vorbereitungen, zähe Verhandlungen und Volksabstimmungen zogen sich über viele Jahre. Einigen Staaten war es besonders wichtig, nicht nur der EU, sondern auch der NATO beizutreten. Aus Gründen. Einige hatten bereits vor EU-Beitritt den ebenfalls langwierigen NATO-Aufnahmeprozess bewältigt. Keinesfalls ein Schnelldurchlauf und keine Selbstverständlichkeit.
Viele Unternehmen verlagerten Produktionsstätten nach Polen, Tschechien und in die Slowakei. Aus West- und Osteuropa wurde wieder ein wirtschaftlich dynamisches und über Lieferketten eng verzahntes Zentraleuropa. Die ersten Jahre der EU-Mitgliedschaft waren nicht einfach, aber spätestens seit der Eurokrise stehen das Wirtschaftswachstum und der Rückgang der Arbeitslosigkeit in den damals noch neuen EU-Mitgliedsstaaten im Gegensatz zu Südeuropa.
In unserem Teil der EU wird das spanische Bruttoinlandsprodukt (BIP) erst 2026 das Niveau von 2009 erreichen. Nach der EU-Osterweiterung 2004 lag das spanische Pro-Kopf-BIP über 90 % gemessen am Gemeinschaftsdurchschnitt in der ganzen EU, die EU-Kohäsionsfonds waren somit futsch. Die boomende Bauwirtschaft stürzte 2006/2007 ein, dann traf die Eurokrise 2009 den europäischen Süden ins Mark und nun auch noch die Corona-Krise.
Im Osten viel Neues
Die Abwanderung von Fachkräften, von jungen Menschen im Allgemeinen, und eine bis zu dreimal so hohe Inflation (November 2022: Spanien 6,7 %; Estland / Lettland / Litauen: über 21 %) machen den EU-Mitgliedstaaten in Zentral- und Nordeuropa zu schaffen. Wie in Deutschland musste die Energieversorgung in kürzester Zeit umgekrempelt werden.
Polen, weitere Staaten in Zentraleuropa und die baltischen Staaten im Norden haben in den letzten Jahrzehnten enorm viel geleistet und erreicht. Das neue Selbstbewusstsein bezieht sich nicht auf die stets medienwirksam inszenierten Reparationsforderungen der polnischen Regierung – zur Wiedervorlage im Takt anstehender Wahlen. Vielmehr geht es darum, wie sehr die Bevölkerung dieser Länder für Europa einsteht. Auch weil sie auf keinen Fall eine Rolle rückwärts in die Geschichte machen will.
‚Wir haben euch gewarnt.‘ – Der raue geopolitische Ostwind hat vielen Politikerinnen und Politikern in Zentral- und Nordosteuropa leider recht gegeben. Gut dreißig Jahre lang haben sie vor dem gewarnt, was sie selbst mehrfach durchgemacht haben und in der Ukraine nun wieder passiert. Es ist an der Zeit, diesen Teil Europas als gleichberechtigten Teil der Union ernst zu nehmen und ihm Gehör zu schenken. Anfangen können wir damit, nicht länger von Ostblock oder ehemaligen Sowjetrepubliken zu sprechen. Diese Begriffe sind seit mehr als dreißig Jahren passé.
von Kolja Bienert, Februar 2023
Schlagwörter: Europa, Frauen, Geschichte