„Alle Wege sind offen“
Die Photojournalistin und Schriftstellerin Annemarie Schwarzenbach (1908-1942)
Ihr standen in der Tat alle Wege offen. Sie verbrachte ihr Leben mit Reisen, vor allem in den Nahen Osten, und Schreiben, aber ihre Reiseberichte kennt heute kaum noch jemand. Doch gerade in Barcelona und Katalonien sollte man sich für sie interessieren, unternahm sie doch ihre erste größere Reise mit dem Auto 1933 in diese Region.
Annemarie Schwarzenbach wurde 1908 in Zürich geboren, ihr Vater war ein reicher Seidenfabrikant. Nach Hauslehrerin, Privatschule und Töchterinternat studierte sie ab 1927 in Zürich, Paris und den USA Geschichte und promovierte 1931 mit einer Arbeit zur Geschichte des Oberengadins im Mittelalter. Von androgyner Schönheit, war sie auch eine leidenschaftliche Musikerin und Literatin. 1928 veröffentlichte sie ihre erste Novelle „Eine Frau zu sehen“ (Erstdruck anlässlich ihres 100. Geburtstages 2008 im Kein&Aber-Verlag Zürich). Mit diesem literarischen Coming-Out wurde ihre lesbische Veranlagung offensichtlich, die ihre Eltern leider als Krankheit betrachteten, was in der Folge zu schweren familiären Konflikten und auch Suizidversuchen führte. Schwarzenbach setzte sich zwar über die moralischen Vorurteile ihrer Zeit hinweg, aber ihr erstes Buch „Freunde um Bernhard“ (1931, Neuauflage Lenos-Verlag Basel 1998), zeigt, wie sensibel sie war und wie verletzend die erotischen Erfahrungen ihrer Jugendjahre waren.
Ihr Interesse für die Literatur brachte sie in Kontakt mit Erika und Klaus Mann, den ältesten Kindern von Thomas und Katja Mann, mit denen sie eine enge Freundschaft verband (1). Sie verliebte sich in Erika, rutschte aber in den frühen 1930er Jahren in eine Morphinabhängigkeit, unter der sie bis zu ihrem Tod litt. Der ebenfalls drogensüchtige Klaus war ihr manchmal auch ein treuer Reisebegleiter. Mit ihm reiste sie beispielsweise 1934 zum ersten Allunionskongress sowjetischer Schriftsteller in Moskau und unterstützte ihn bei der Herausgabe seiner wichtigen antifaschistischen Exilzeitschrift “Die Sammlung” (Amsterdam 1933-35).
Die Freundschaft zwischen Schwarzenbach und den Manns führte zu politisch motivierten Spannungen zwischen ihr, der Linksliberalen, und ihrer eher faschistisch eingestellten mütterlichen Familie. In Schwarzenbachs Freundeskreis fanden sich hingegen mehrere jüdische und politische Emigranten. Berlin, wo sie sich öfters aufhielt, musste sie 1933 nach der Machtergreifung Hitlers wieder verlassen. Im Winter 1933 machte sie den Journalismus zu ihrem Beruf und lebte forthin als Migrantin – ihre Reisen sind auch als ein Versuch zu sehen, sich von den Fesseln einer konservativen Familie und Gesellschaft zu befreien.
Es ist hier nur andeutungsweise möglich, die rastlose Reisetätigkeit Annemarie Schwarzenbachs zu beschreiben. Sie sind auf der ihr gewidmeten Internetseite der Schweizerischen Nationalbibliothek nachzulesen, wo auch viele Fotos von ihr zu bewundern sind (2). Ausgerechnet die Reportage über ihre erste journalistische Reise 1933 mit der Fotografin Marianne Breslauer nach Spanien, in die Pyrenäen und nach Katalonien fehlt dort aber, nur die Fotos sind zu sehen. Im gleichen Jahr führte sie der Weg in den Iran (damals Persien), wohin sie nochmals 1935 zurückkehrte, um eine Scheinehe mit einem französischen Diplomaten einzugehen. Dadurch erhielt sie die französische Staatsangehörigkeit und einen Diplomatenpass.
Mit ihren Freundinnen und Fotografinnen Marianne Breslauer, Barbara Hamilton-Wright oder Ella Maillart tourte Schwarzenbach im Auto durch Europa, Syrien, Iran, USA, Afghanistan, Indien, Kongo und Tschad. Sie suchte nach der Wahrheit, auch nach der eigenen, und verfasste darüber mehrere hundert Reisereportagen und Tausende Fotografien, die heute im Schweizer Literaturarchiv und in der Nationalbibliothek lagern und ihren kritischen Blick auf die vorgefundene Realität widergeben.
Daneben schrieb sie mehrere Romane, die auch noch heute lesenswert sind: „Das glückliche Tal“ (entstanden während einer Entziehungskur), „Flucht nach oben“, „Bei diesem Regen“, „Das Wunder des Baums“ u.a. (3)
1937 zog es sie in die USA, wo sie in New York erneut mit den Geschwistern Mann zusammentraf. Dort reiste sie in den nördlichen Industrieregionen und den Südstaaten herum und beschrieb und fotografierte die sozialen Zustände. Auch in den USA musste Schwarzenbach sich wegen ihrer Morphiumsucht, schwerer Depressionen und Suizidversuchen mehrfach in psychiatrische Behandlung begeben.
Im Sommer 1939 durchquerte sie zusammen mit der Reiseschriftstellerin Ella Maillart mit dem Auto Jugoslawien, die Türkei und Afghanistan bis nach Indien, aber bezeichnenderweise wurde die Sammlung von Texten, die aus dieser Reise hervorgingen, erst im Jahr 2000 unter dem Titel „Alle Wege sind offen“ im Schweizer Lenos Verlag veröffentlicht.
Im Juni 1942 kehrte sie wieder in die Schweiz zurück. Am 7. September stürzte sie im Engadin mit ihrem Fahrrad und zog sich eine schwere Kopfverletzung zu, an der sie am 15. November 1942 starb. Lange Zeit nur in lesbischen Kreisen bekannt, erhält Annemarie Schwarzenbach heute die ihr gebührende Aufmerksamkeit als Schriftstellerin und Fotojournalistin. (4)
(1) Hörbuch: „Wir werden es schon zuwege bringen, das Leben“. Briefe an Erika&Klaus Mann 1930-1942, gelesen von Hannelore Elsner. 3 CDs. Kein&Aber Records Zürich.
(2) https://ead.nb.admin.ch/html/schwarzenbach.html, https://www.swissinfo.ch/ger/-swisshistorypics_annemarie-schwarzenbach–winterreise-nach-vorderasien/44408326
https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:CH-NB-Annemarie_Schwarzenbach)
(3) Ein umfangreiches Werkverzeichnis befindet sich am Ende des Artikels in der deutschsprachigen Wikipedia.
(4) Melania G. Mazzucco schrieb eine romanhafte Biografie: „Die so Geliebte. Roman um Annemarie Schwarzenbach“, Piper-Verlag München 2003.
Von Dr. Katharina Städtler
Schlagwörter: Biografisches, Frauen