Der moderne Staat entstand vor 500 Jahren
Wir treffen Bodo Ramelow nach einem Event des Kreises Deutschsprachiger Führungskräfte im Círculo Ecuestre in Barcelona.Sie haben eine breite politische Laufbahn durchlaufen, im Bundestag als Abgeordneter, im Landtag in der Opposition und jetzt als erster Ministerpräsident der Linken in Deutschland. Wie sind Sie zur Politik gekommen?
Ich bin schon als Kind über so etwas wie eine Verantwortungserziehung sozialisiert, als evangelischer Christ in einer Kirchengemeinde.. Es war ein ganz normaler Vorgang, sich zu kümmern. Und so kam es dann auch, dass ich in der Schule Klassensprecher war, dann in der Ausbildung Jugendvertreter, später Gewerkschafter, Gewerkschaftssekretär und 1999 habe ich die sozialpolitische Basis verlassen und bin in die Parteipolitik gegangen. 1999 habe ich dann als erster parteiloser Spitzenkandidat zusammen mit Gabi Zimmer für die Landtagswahlen in Thüringen kandidiert. Einige Zeit später habe ich dann die Entscheidung getroffen, in die PDS einzutreten, weil sie damals bei heranziehenden Kriegseinsätzen nicht bereit war, zuzustimmen. Ich war der tiefen Überzeugung, dass wir viele, viele Jahrzehnte des Friedens hatten, weil die Diplomatie gesiegt hat und nicht die Kriegslogik. Und so verlief dann mein Werdegang von der PDS zum Bundeswahlkampfleiter 2005, dann die Neubildung der Partei als Parteibildungsbeauftragter. Als Oppositionsführer in Thüringen hatte ich immer die Idee im Kopf, dass drei Parteien zusammen eine Koalition bilden können, was damals in Deutschland als undenkbar galt. Ich praktiziere als erster Ministerpräsident Deutschlands das Dreier-Konzept, und zwar aus eigenem Antrieb, aus tiefster Überzeugung.
Wo sehen Sie Ihren besonderen Auftrag als Ministerpräsident Thüringens? Was wollen Sie verändern?
Was wollen wir ändern? Wir haben von Anfang an gesagt, wir wollen manches einfach besser machen. Wir haben keinen großen Vortrag gehalten: wählen Sie uns und dann machen wir die Welt schön, sondern wir haben gesagt, manche Dinge müssen einfach besser verzahnt sein. Sachen, die liegen geblieben sind wie eine große Verwaltungsreform. Wir sind viel zu kleinstaatlich organisiert. Themen wie Weltoffenheit, auch der Umgang mit Fremdenfeindlichkeit, Rassismus als Stichwort. Der NSU, der braune Terror in Deutschland kommt aus Thüringen. Mit solchen Dingen wollen wir brechen und sagen, wir stehen in der Verantwortung, dass sich so etwas nicht wiederholen darf. Aber wir haben uns nicht so präsentiert, als ob wir den Zauberstab hätten. Das ist ein Stück harte Arbeit. Was meine persönliche Motivation betrifft, bei Problemstellungen, wo es für Arbeitnehmer kritische Situationen gab oder gibt, als verlässlicher Partner, zu schauen, ob man Alternativen findet.
Weil Sie die rechtsradikalen Bewegungen ansprechen, hier hört man oft Dresden und Sachsen in Verbindung mit Pegida… was sind Ihrer Meinungen nach die Ursachen dafür, dass Pegida gerade in Sachsen angefangen hat?
Fälschlicherweise werden solche Bewegungen, damit in Verbindung gebracht, dass es einem „schlecht geht“ oder mit Prekarität verbunden wird. Pegida ist tatsächlich ein sehr Dresden-zentriertes Thema, das viel tiefer sitzt als die jetzige Erscheinungsform von Pegida. Das ist eine gebrochene Bürgerschaft. Im Gürtel um Dresden herum spielen komplexe Sachen eine Rolle. Sich zweitklassig zu fühlen, man fühlt sich nicht direkt in die Bundesrepublik aufgenommen, wo man doch so viele Hoffnungen hatte, da spielt auch Irrationalität eine Rolle. Das alles angereichert mit xenofobischen und islamofobischen Überhöhungen. Dass gewarnt wird vor dem Islam, der Sachsen bedroht, oder Thüringen bedroht. Und in Wirklichkeit haben wir so gut wie keine Ausländer. Weder Sachsen noch Thüringen haben einen größeren Bevölkerungsanteil an Ausländern. Der größte Anteil davon in Thüringen sind Vietnamesen, die einfach dageblieben sind, sie organisieren ihr Gewerbe und fallen gar nicht auf. Als wir mal in Thüringen 120 spanische Jugendliche bekamen, die schlecht vorbereitet waren und unter falschen Prämissen angeworben wurden, gab es eine riesige Solidaritätsbewegung mit diesen Jugendlichen. Zum Beispiel zusammen Kochen im Jugendklub, die Spanier jeden Abend zusammen zu holen, um sie nicht alleine zu lassen. Es gibt also tatsächlich auch die gegenteilige Bewegung.
Wie ist zurzeit Thüringen positioniert im bundesweiten Vergleich und was würden Sie gern für Thüringen auf Bundesebene erreichen bzw. wie will sich Thüringen einbringen?
Thüringen hat 2,16 Millionen Einwohner. Außerhalb Thüringens nimmt man uns wahr über Kunst und Kultur, über Goethe und Schiller. Über die deutsche Klassik, über die Reformation. Wir haben gerade 500 Jahre Reformation. Wartburg ist da genannt. Martin Luthers Wirken, also die Protestanten aus der ganzen Welt schauen sehr genau auf Thüringen. Tatsächlich sind wir aber jenseits dieser Dinge wieder zum Industrieland auferstanden. Wir sind sozusagen wieder auf die Füße gekommen. Ich bin ja vor 27 Jahren als Gewerkschafter nach Thüringen gekommen und habe die ganzen Verluste der Arbeit gesehen. Die zerbrechenden Strukturen, die Kombinate, die auseinanderflogen oder abgewickelt wurden. Konkurrenzverdrängung, die stattgefunden hat. Also ein Riesenbruch von Arbeit mit der Konsequenz der Massenarbeitslosigkeit von 22 oder 25 Prozent, eine teilweise bedrohliche Situation. Und daran gemessen sind wir 27 Jahre später auf Platz 1 der niedrigsten Arbeitslosigkeit in ganz Ostdeutschland. Wir haben in Südthüringen eine Arbeitslosigkeit, die liegt bei 3,5 Prozent. Das ist Vollbeschäftigung. Wir sind gesamtdeutsch auf einmal in das Mittelfeld aller Bundesländer vorgerückt. Wir nehmen beim Wirtschaftswachstum in Deutschland den vierten Platz ein. Wir liegen auf Platz eins bei der Industriedichte und Industriebetrieben auf eintausend Einwohner gerechnet. Wir liegen auf Platz vier der Industriearbeitsplätze. Und Jena hat die höchste Forscherdichte Deutschlands. Das heißt, da gibt es Innovation, Wohlstand, Produktivität, Industrie. Trotzdem haben wir zeitgleich ein Auseinanderbrechen des Arbeitsmarktes. Wir haben diejenigen, die schnell wieder Arbeit finden und diejenigen, die Langzeitarbeitslose sind und gar nicht mehr reinkommen. Und deshalb müssen wir den scheinbaren Misserfolg, das Abgehängtsein, angehen und gezielte Brücken bauen.
Es ist interessant, dass Sie Flüchtlinge erwähnt haben. Am 18. Februar gab es in Barcelona eine Massendemonstration für die Aufnahme von Flüchtlingen um somit die Zentralregierung anzuregen, das Kontingent an Flüchtlingen, zu dem sie sich verpflichtet hatte, zu erfüllen. Es nahmen bis zu 300.000 Menschen teil. Die Aufnahmebereitschaft ist also da, die Plätze sind geschaffen, aber Katalonien hat keine Vollmacht auf diesem Gebiet und so können keine Flüchtlinge nach Katalonien kommen. Wie läuft das im Vergleich in der Bundesrepublik?
Wir haben ein sehr geordnetes System, das ist der Königsteiner Schlüssel. Das ist die Anzahl der Bevölkerung im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung. Und dieser Schlüssel ist vor 50 Jahren zufällig in Königstein im Taunus festgelegt worden und jeder in der Lokalpolitik kennt dieses Zauberwort – wenn man sagt, dieses oder jenes ist nach Königsteiner Schlüssel geregelt, dann weiß der Bescheid. Und über diesen Schlüssel bekommen wir 2,61 Prozent aller Flüchtlinge. Also haben wir unseren Teil der Solidarität zu übernehmen, das machen wir auch gern, da wir von Anfang an mit einer guten Methode der Integration die Flüchtlinge aufnehmen. Anfangs war es nur Notversorgung, humanitäre Hilfe, später Schulungen und Integration. Aber die Balkanroute ist zu, es kommen also gar keine Flüchtlinge mehr. Insgesamt sind in diesem Jahr 471 Flüchtlinge nach Thüringen gekommen. Vor eineinhalb Jahren haben wir am Tag 3000 oder 4000 gehabt. Das ist für Deutschland und Thüringen derzeit kein Thema. Wir sind also vorbereitet. Die Bundesrepublik hat inzwischen den Kurs geändert und schottet sich jetzt auch ab, weil sie sagt, das muss Europaweit geklärt werden. In diesem Zusammenhang habe ich also mit Interesse die Demonstration in Barcelona wahrgenommen, weiß aber, dass deutlich mehr geschehen muss. Es ist nicht nur eine Frage der Verteilung der Flüchtlinge zwischen den Staaten, sondern es
muss auch eine Grenzsicherheit thematisiert werden als gesamteuropäische Aufgabe und die Frage sicherer Fluchtwege. Die Frage der Flüchtlingskontingente und der Grenzsicherung sind ineinander verwoben. Wenn wir das nicht europäisch angehen… das ist etwas, was ich an Spanien bewundere und das wir in Deutschland nicht hinkriegen, dass die Illegalen einen legalen Zugang ins Leben bekommen haben.
60 Jahre Europa: wo stehen wir? Ein Grund zum Feiern? Viele sagen heutzutage, es ist ein Rückschritt, andere sehen das anders. Was ist Ihre Meinung?
Mein Großvater ist im ersten Weltkrieg Soldat gewesen und ist mit der Waffe in der Hand ein europäischer Reisender gewesen. Das hätte er sich sicher gern verkniffen. Mein Vater war an der russischen Front Soldat und war als Reisender mit der Waffe in der Hand in Europa unterwegs gewesen. Dieses europäische Modell will mit Sicherheit keiner mehr wiederhaben. Deshalb bleibe ich bei der deutschen Verantwortung, denn der Verzicht auf Aggression, auf Kriegspolitik ist eigentlich ein Fortschritt für Europa. Ich würde mir eine Debatte wünschen, dass dieses Europa seine Hausaufgaben macht und einen Mindeststandard für Menschen garantiert. Die Menschenwürde auf eine andere Eben heben, auf eine europäische. Wir müssen bedenken, Europa geht von Portugal bis Rumänien, Bulgarien. Der Wohlstand europäischer Konzerne hängt auch am Billiglohnland Rumänien und Bulgarien. Für einen angeglichenen Wohlstand europaweit muss erst mal das Lohnniveau in Bulgarien und Rumänien steigen und man muss sich um die Jugendarbeitslosigkeit in Spanien und Portugal kümmern.
Welche gemeinsamen Projekte sehen Sie oder existieren bereits zwischen Katalonien und Thüringen?
Wir sind eher ein kleines, unauffälliges Land in Deutschland. Dass ich hier bin hängt eher mit der evangelischen Kirche von Barcelona zusammen, die von einem Thüringer Architekten gebaut wurde. Der jetzige Pfarrer hat mich eingeladen zu dem Kreis der Deutschen Führungskräfte, dieser Kreis existiert ja nun seit 60 Jahren. Das hat mich neugierig gemacht. Ich habe heute auch mit der Parlamentspräsidentin und dem Ministerpräsidenten über mögliche Projekte gesprochen. Als Land Thüringen haben wir unseren Schwerpunkt aber eher in Zaragoza, im Import/ Export liegt Spanien bei uns auf Platz 9 und umgekehrt wir auf Platz 10. Davon werden aber 60 Prozent allein über Opel generiert, das Werk in Zaragoza liefert alle Vorwerksbestandteile an das Werk in Eisenach. Was ich heute mit dem Ministerpräsidenten Puigdemont besprochen habe ist das Thema der dualen Berufsausbildung. Da hätten wir etwas einzubringen. Wenn das gewünscht ist, stehen wir gern bereit. Ansonsten bin ich gern in dieser Stadt.
Ein weiteres Thema ist die Frage der Gleichstellung, die Rolle der Frauen. Wie ist die Situation in Thüringen? Was leistet Ihre Regierung konkret im Bereich der Gleichstellung der Frau im Beruf und in der Gesellschaft.
Bedarf ist nach wie vor da. Und bei der Lohndrift existiert immer noch europaweit ein Mindestabstand von 25 Prozent zwischen Mann und Frau. Diese Lohndrift wird nicht kleiner. Wenn es gut läuft, stagniert sie nur, aber sie wird zum Teil auch größer. Wir können aber etwas tun. Mein Kabinett ist genau paritätisch. Das haben wir so gewollt. Meine Partei hat den höheren Frauenanteil. Die Linke ist satzungstechnisch so angelegt, dass sie nur paritätisch geht,. Das ist ein Lernprozess, der seine Zeit braucht. Bei der Frage der Gleichberechtigung ist an ganz vielen Stellen anzulegen. Die Frage zum Beispiel im Erzieherberuf: männlich der Begriff, weiblich das Gesicht. Müssten wir nicht auch mehr Männer in den Kindereinrichtungen haben, die ganz normal dort tätig sind?
2017 ist der 500. Jahrestag der Reformation. Wie gehen Sie dieses Datum persönlich an als Protestant und wie wird Thüringen Luthers Erbe feiern?
Ich komme aus einer uralten protestantischen Familie, die fast seit der Reformation eine aktive Pastorenfamilie der evangelisch protestantischen Bewegung ist. Alle meine Vorfahren waren in unserer Dorfkirche Pfarrer. Einer meiner Vorfahren war auch der Pfarrer, der Goethe getauft und Goethes Eltern getraut hat. Da ist also ein Stück weit in meinen Genen, der evangelische Christ, auch mit in der Erziehung drin gewesen. Ich sehe mich aber auch als Sozialist. Zur Frage, was machen wir im Reformationsjahr. Es gab eine zehnjährige Vorbereitungszeit. Große Ausstellungen, große Themenkataloge, große Werbemaßnahmen, jetzt sind wir auf dem Zenit des 500. Jahres des Thesenanschlags von Wittenberg. Da spielt natürlich die Wartburg eine zentrale Rolle. In wenigen Tagen wird dort die Ausstellung über das Wirken von Luther, natürlich die Bibel und die Bibelübersetzung stattfinden. Für Deutschland hat diese Bibel eine überragende Bedeutung, egal ob man religiös informiert ist oder nicht. Die deutsche Schriftsprache geht auf diese Bibelübersetzung zurück. Weil Martin Luther das Meissner Kanzeleideutsch angewandt hatte, was Sächsisch ist. Und daraus hat er dann entwickelt, was später Standarddeutsch wurde. Die Kombination der Hannoveraner Sprachfärbung, was wir Hochdeutsch nennen, mit diesem Meissner Kanzeleideutsch in der Lutherübersetzung ist unsere deutsche Sprache. Über all diese Dinge wird berichtet, aber eben auch über den modernen Staat. Die Trennung von Staat und Kirche, geht auf die Zwei-Reiche-Lehre von Martin Luther zurück. Die Gründung von nichtkirchlichen Schulen geht auf die Reformation zurück, weil die Klöster geschleift wurden, keine Bildung mehr da war.
Luther selber war kein Mensch der Moderne, er war immer noch in seinem Mittelalter verankert, blieb er auch. Er war jemand, der den Glauben den Menschen nah gebracht hat, in die unmittelbare direkte Beziehung, heraus aus dem Machtapparat Kirche. Und raus aus dem Begriff, dass man dafür Geld bezahlen musste, also Abgaben. Seine Frau, Katharina von Bora, ist nicht nur seine Frau gewesen, sondern sein Rückgrat. Sie hat erst ermöglicht, was Luther an moderner Kommunikation gemacht hat, und tatsächlich war sie auch diejenige, die es geschafft hat, nicht nur die eigene Herkunft und das mittelalterliche Denken zu überwinden, sondern am Ende war sie sogar schon der Beginn der modernen Frau. Eine hochverantwortliche, tatkräftige Persönlichkeit, die es geschafft hat, damit völlig anders umzugehen, was auch viel Neid ausgelöst hat, in Wittenberg und später in Torgau, wo sie sehr verarmt gestorben ist.
Von Krystyna Schreiber
Schlagwörter: Europa, Interviews