Eine Frau blickt zurück:
Annie Ernaux, Literaturnobelpreisträgerin
Ich schreibe hier über Annie Ernaux, obwohl ich letzten Sommer eines ihrer Werke, Journal du dehors, als definitiv langweilig beiseitegelegt habe. Nun hat sie aber den Nobelpreis für Literatur 2022 gewonnen. Lag ich also falsch mit meiner Einschätzung?
Annie Ernaux, geborene Duchesne, wurde 1940 in der Kleinstadt Lillebonne in der Normandie geboren und wuchs in Yvetot auf. Sie selbst betont in mehreren Romanen ihre einfache Herkunft: Ihre Eltern waren zunächst Arbeiter, hatten später aber einen kleinen Lebensmittelladen mit angeschlossenem Café, das wir heute als romantisch bezeichnen und aufsuchen würden – das typisch französische Café du coin. 1960 verbrachte sie ein Jahr als Au-pair in London; diese Zeit reflektierte sie in ihrem autobiographischen Roman Mémoire de fille (Erinnerungen eines Mädchens). Nach ihrer Rückkehr studierte sie in Rouen und Bordeaux Lehramt und wurde anschließend an verschiedenen Orten Lehrerin für französische Sprache und Literatur, zunächst in Savoyen, dann in einem Pariser Vorort. Schließlich unterrichtete sie 23 Jahre beim CNED, dem französischen Zentrum für Fernunterricht.
Ernaux, die sich als „Ethnologin ihrer selbst” bezeichnet, wurde erst 2008 in Frankreich mit ihrem Roman Les années bekannt. Den Nobelpreis bekam sie 2022, im Alter von 82 Jahren. Bis dahin hatte sie rund zwanzig überwiegend autobiografische Romane veröffentlicht. Das Komitee zeichnete die Autorin aus „für den Mut und die klinische Schärfe, mit der sie die Wurzeln, Entfremdungen und kollektiven Beschränkungen der persönlichen Erinnerung aufdeckt.” Ob früher Tod der Schwester, Vorgeschichte der Eltern, Abtreibung des eigenen Kindes, Verhältnisse mit jungen und älteren Männern, die eigene Ehe, die sie auf die ungeliebte Rolle der dienenden Ehefrau und Mutter beschränkt – Ernaux schreibt ihre „eigene Biografie als soziologische Fallstudie und Aufstiegsgeschichte, nahbar, lebhaft, sehr genau und ohne Sentimentalität oder Koketterie“, wie die Literaturkritikerin Julia Lorenz schreibt.
Ernaux’s Erzählungen werden lange Zeit von der Scham dominiert, die sie einerseits angesichts ihrer einfachen Herkunft und andererseits durch die Entfernung von dieser durch Studium und Karriere empfindet. Sie wird berühmt für die Schärfe und Schonungslosigkeit, aber auch das Stille und die dezente Poesie ihrer soziologischen Analysen über Herkunft, Klasse und Weiblichkeit. Sie selbst schreibt in Das andere Mädchen: „Ich […] war im Umgang mit Erwachsenen distanziert, ich beobachtete sie und hörte ihnen zu, statt sie zu umarmen, also galt ich nicht als lieb.“
Ich weiß von einer französischen Bekannten, dass in Frankreich Ernaux geradezu vergöttert wird für ihre Autosoziobiographien, d.h. die Erzählungen, die ihre eigene Biographie mit den Ereignissen von nationaler Tragweite, also auch mit dem Leben vieler anderer Franzosen und Französinnen verknüpfen (vor allem in Les années, 2008). Dies kann ich wohl glauben, weil sie z.B. in Les Armoires vides (1974) und L’événement (2000) die erniedrigenden Erlebnisse bei der Abtreibung ihres ersten Kindes beschreibt, und dies, obwohl Frankreich damals eine Vorreiterrolle in der Verhütungspolitik spielte. Nicht nur dadurch wurde sie zu einer Ikone des Feminismus, sondern auch durch die Lebensgeschichten der starken Frauen ihrer Familie (La Femme gelée, 1981, Une femme, 1987).
Was also langweilte mich bei der Lektüre dieser politisch so korrekten Texte? Ist es die Abwesenheit des Ichs der Erzählerin, die nicht psychologisiert und wegen ihrer kargen Sprache keine Sentimentalität aufkommen lässt? Dies wirkt beklemmend, „schwer wie Stein“ (so die Literaturwissenschaftlerin Barbara Vinken). Von der biographischen wechselt die Autorin fortwährend in die soziologische Perspektive, so dass die Subjektivität durch vorgeblich objektive Fakten ergänzt – oder auch gestört – wird.
Dies beschreibt ein Kommentar zu Journal du dehors (1993): „Tiefere Einblick in menschliche Schicksale vermittelt [die Autorin] nicht. Die Beobachterin gibt wie eine Kamera nur das wieder, was sie sinnlich gewahrt. Sie beginnt kein Gespräch, fragt nicht nach, zieht keine weiteren Erkundigungen ein. [Sie legt] allerdings einen Rechenschaftsbericht vor, ihr Journal du dehors.“
Wer sich also für die Sozialgeschichte Frankreichs der Jahre 1950-2007 interessiert, noch dazu illustriert durch persönliche Erlebnisse einer sehr intellektuellen Frau, der mag sich an Ernaux’s Werk erfreuen. Ich selbst erfreue mich lieber an Literatur, welche Geschichte, Phantasie und Sprachkunst verbindet und mir in den Lesestunden mehr schenkt als den selbstbezogenen Blick einer obsessiv ihre Erinnerungen durchlebenden Nobelpreisträgerin.
Leseprobe: https://media.suhrkamp.de/mediadelivery/asset/f8f7fefbc1264b8b96e7183951800a4a/das-andere-maedchen_9783518225394_leseprobe.pdf?contentdisposition=inline
Von Dr.habil. Katharina Städtler
Schlagwörter: Frauen, Literatur