Wir Frauen stellen uns eher in Frage
Durch die hohen Hallen des alten Arsenals von 1714, in dem das katalanische Parlament untergebracht ist, und über weiche Teppiche gelange ich zum Büro von Carme Forcadell, der Landtagspräsidentin. Klassische Musik liegt in der Luft und vor dem Bild der Menschrechtskämpferin Neus Català, legt sie mir die Demonstration am kommenden Tag ans Herz, wo die Katalanen dafür demonstrieren, dass Spanien endlich wie versprochen 16.000 Flüchtlinge aufnimmt (Es gingen ca. 160.000 Katalanen auf die Strasse. Casa nostra, Casa vostra)…
Wie sind Sie zur Politik gekommen?
Ich kam zur Politik, als ich merkte, dass wir uns in einem besonderen Moment befanden. Diese Wahl war für uns zur Priorität geworden. Einige Personen, die vorher nicht involviert waren und aus der zivilen Gesellschaft kamen, ließen sich zur Wahl aufstellen. In meinem Fall war es die ANC- Asamblea Nacional Catalana, andere kamen aus anderen Organisationen oder sie waren bekannte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Wir beschlossen die Gruppe Junts-per-si zu bilden. Ich kam also aus einer Organisation der zivilen Gesellschaft. Wir verstanden die Situation so, dass sie sich in ihrer Außergewöhnlichkeit nicht wiederholen würde.
Machen Frauen anders Politik als Männer?
Das hängt von den Frauen ab. Wir können nicht sagen: alle Frauen, alle Männer. Das hängt von den Personen ab. Die Gesellschaft ist sehr machistisch. Es gibt auch machistische Frauen, nicht nur Männer. Nicht alle Frauen sind Feministinnen, nicht alle Männer Machisten. Es gibt sowohl Frauen als auch Männer, die Feministen sind. Nicht nur Frauen können eine andere Politik machen, sondern auch Männer. Ich glaube, dass sie auf eine andere Art Politik machen, weil viele Frauen bisher keine Gelegenheit hatten, in die Politik zu gehen. Wenn Frauen vor dem Angebot stehen, einen Posten zu übernehmen, fragen sie sich oft, ob sie dazu überhaupt fähig sind. Männer fragen sich das meistens nicht. Ich glaube, allein diese Fragestellung bewirkt, dass es anders ist. Man denkt über das Ja nach. Kann ich das übernehmen? Denn in der Gesellschaft entspricht die familiäre Rolle weiterhin der Frau. Deshalb fragt sich die Frau vor jeder Entscheidung, ob sie das mit der Familie vereinbaren kann. Dass sie das Privatleben mit dem politischen Leben anders vereinbaren müssen, konditioniert die Frauen.
Man sagt, dass Frauen in der Politik keinen Fehler machen dürfen.
Wir Frauen stellen uns eher in Frage. Das hängt eben von der gesellschaftlichen Rolle ab. Oft wird der Fehler einer Frau weniger entschuldigt als der Fehler eines Mannes. Oft riskiert sie etwas allein durch ihre Kleidung oder ihre Frisur. Ein Mann riskiert etwas durch das, was er sagt, bei einer Frau achtet man immer noch zuerst auf ihr Erscheinungsbild. Das würden wir natürlich gern ändern. Daran arbeiten wir. Es muss einen Mentalitätswechsel geben. Eine Einstellung zu ändern ist das schwierigste. In Katalonien haben wir bereits ein sehr fortschrittliches Gesetz zur Gleichstellung. Aber der wirkliche Wandel erfolgt erst durch die Gesellschaft, wenn sie sagt: Wir gehen einen Schritt voraus und ändern etwas. Aber das kostet am meisten. Man muss zum Beispiel etwas an der Erziehung ändern.
Sie haben einen linguistischen Kampf ausgefochten. Sind Sie damit zufrieden?
Wir sind sehr weit vorangekommen, wenn man bedenkt, wie es vorher war. Es hat einen wichtigen sozialen Wandel gegeben. In Katalonien werden mehr als 200 Sprachen gesprochen.
200?
Ja, 200. Weil Menschen aus allen Teilen der Welt gekommen sind. Wir leben die kulturelle Vielfältigkeit und den sprachlichen Reichtum als etwas Positives. Wir verstehen es als etwas Positives, weil die Menschen hier andere Kulturen und Arten, die Welt zu verstehen, kennenlernen. Letztlich nimmt man immer das Beste jeder Kultur auf. Aber wir meinen auch, dass die eigene Sprache das Katalanische ist. Man muss sie verteidigen, weil es eine Minderheitensprache ist, die zwischen den Staaten Frankreich und Spanien mit sehr starken Sprachen liegt. Darum müssen wir sie verteidigen und schützen, wie wir Schwächere verteidigen und schützen. Aber wir finden auch, je mehr Sprachen, desto besser. Wir sagen nicht: Nur Katalanisch! Nein, Katalanisch, Spanisch, Englisch, Französisch, je mehr Sprachen umso besser. Die Situation der Sprache ist besser als vor einigen Jahren, aber wir müssen uns immer dessen bewusst sein, dass es sich um eine Sprache handelt, die sich in einer schwachen Situation befindet.
Europa feiert 60 Jahre! Wie sehen Sie die Situation in Europa? Stagniert die Entwicklung, geht es voran, geht es zurück?
Mich macht es sehr traurig. Wir in Katalonien waren immer sehr europafreundlich. Noch bevor Spanien in die Europäische Union eintrat, gab es hier Bestrebungen, damit Spanien diesen Schritt tat. Europa stand für uns immer für das Bild der Demokratie, der Solidarität, der Freiheit. Dieser europäische Geist, mit dem die Europäische Union gebaut wurde, gefällt uns. Wie meinen, dass dieser Geist sich heute verloren hat. Man muss die Zukunft jetzt überdenken. Es kann nicht sein, dass wir an den Grenzen Flüchtlinge in menschenunwürdigen Bedingungen haben. Wir sind Demokraten, wir sind solidarisch, aber das ist die Schmach von Europa. Besonders weil wir in Europa solche Situationen bereits durchgemacht haben. Das ist nicht das erste Mal. Die Geschichte wird uns beurteilen. Genauso wie sie nach dem Spanischen Bürgerkrieg darüber geurteilt hat, dass die spanischen Republikaner, die fliehen mussten, in Internierungslagern waren. Wir machen dasselbe. Das macht mich sehr traurig. Die Union der europäischen Staaten sollte die Flüchtlingspolitik überdenken. Wenn Europa die Menschrechte nicht mehr verteidigen würde, sähen diese Personen ihre Menschrechte weder verteidigt noch anerkannt. Funktionieren die Menschenrechte nur innerhalb unserer Staaten? Oder haben alle Menschen Anrecht darauf? Wenn alle Rechte haben, dann machen wir das nicht richtig. Ich war immer sehr stolz darauf Europäerin zu sein, aber jetzt bin ich eher beschämt. Besonders in Katalonien wollen wir Flüchtlinge aufnehmen. Morgen ist eine Demonstration angesetzt, um zu zeigen, dass viele Gemeinden vorbereitet sind, Flüchtlinge aufzunehmen. Ich wäre nicht überrascht, wenn vielen Europäern dieses Europa nicht gefällt.
Wir müssen auch den wachsenden Populismus und Faschismus überdenken. Es ist kaum zu glauben, dass wir in Europa eine traumatische Erfahrung damit gemacht haben. Ich denke, wir können das nicht tolerieren und müssen uns gegen den Faschismus aussprechen. Der wachsende Populismus und Faschismus bewegen mich. Sind wir als Demokraten und Anwälte der Menschenrechte unfähig, für die Personen zu sorgen, die an unsere Tür klopfen?
Wo steht das Projekt der Unabhängigkeit Kataloniens? Welche Schwierigkeiten treten auf?
Schwierigkeiten gibt es zahlreiche. Es gibt aber eine große parlamentarische Mehrheit. Es gibt die Regierung von Katalonien. Wir arbeiten für ein Referendum, wie die Mehrheit der Katalanen es will. 80% der Katalanen wollen wählen. Und mehr als 90% werden die Entscheidung akzeptieren. Katalonien ist zutiefst demokratisch. Wir wollen also wählen. Wir haben einen politischen Konflikt mit der spanischen Regierung. Politische Konflikte löst man politisch und nicht auf dem Rechtswege. Und momentan ist der einzige Dialog der mit den Gerichten. Wir denken, dass man in einer Demokratie wählen kann. Und dann werden wir das Ergebnis managen. E
gal wie es ausfällt. Wir wollen politische Probleme politisch lösen und nicht über die Gerichte. Denn das führt dazu, dass das Problem sich verschlimmert, nicht gelöst wird und sich verkapselt. Die Regierung von Katalonien arbeitet an einem Referendum, es gibt eine parlamentarische Mehrheit dafür, aber wir haben vor uns eine Mauer, die spanische Regierung.
Es ist also kompliziert?
Sehr kompliziert. Kein Gericht wird die Katalanen dazu bringen, ihre Meinung zu ändern. Die spanische Regierung denkt, dass wenn sie den Prozess auf eine rechtliche Ebene zieht, die Politik es schaffen wird, dass der Prozess aufhört. So wird es aber nicht sein. Jahr auf Jahr hat das katalanische Volk seinen Willen ausgedrückt, in dem es in Massendemonstrationen auf die Straße gegangen ist. Kein Land ist je fünf Jahre in Folge mit diesem Zukunftswillen auf die Straße gegangen. Das werden die Gerichte nicht stoppen. Das sollte die spanische Regierung wissen. Für ist uns es sehr klar. Das löst sich nur durch Verhandlungen, nicht durch die Gerichte. Ich denke, die spanische Regierung hat darauf gehofft, dass die Bewegung an Bedeutung verlieren wird, aber stattdessen wird sie immer stärker.
Wird das Referendum stattfinden?
Ich bin davon überzeugt. Das hat der Präsident der Generalitat gesagt. Die Mehrheit des Parlaments und des Volkes steht dahinter.
Glauben Sie, dass es ausreichend kulturellen Austausch zwischen Deutschland und Katalonien gibt?
Nein, ich denke, wir brauchen mehr. Wirtschaftlich ist der Austausch sehr groß. Es gibt zahlreiche deutsche Firmen und Konzerne in Katalonien, aber es könnten noch mehr sein. Viele Deutsche reisen hierher und Katalanen nach Deutschland, aber der kulturelle Austausch könnte verbessert werden. Zum Beispiel Katalanisch lernen oder Deutsch. Oder Ausstellungen und Künstlertreffen organisieren.
Politik ist eine Männerdomäne. Sind Sie Politikerin oder spielen Sie eine Rolle?
Momentan bin ich Politikerin. Ich denke, Frauen und Männer sollten nur einen Teil ihrer Zeit der Politik widmen. Vier oder acht, zehn Jahre höchstens seines Lebens sollte man der Politik, dem öffentlichen Leben widmen. Aber nicht sein ganzes Leben. Ich sehe die Politik nicht als Beruf wie es ein Arzt oder Anwalt ist. Ich sehe die Politik nur als einen Teil der Lebensjahre, die man im Dienst der Gesellschaft verbringt. Im Anschluss daran übt man wieder seinen Beruf aus. Das ist gut für Frauen und Männer. Es gibt weniger Frauen als Männer in der Politik, weil die Frauen die Verantwortung für die Familie haben. Deshalb hat man nicht die gleichen Möglichkeiten. Wir arbeiten und kämpfen dafür, dass die Männer auch ihren Teil dieser familiären Verantwortung tragen. Damit dann wiederum alle in dem Moment, wo sie sich für etwas engagieren wollen, die gleichen Möglichkeiten haben. Wir wissen, dass das noch nicht so ist. Auch im Gehalt gibt es noch keine Gleichheit. Frauen verdienen im gleichen Job bis zu 20% weniger als Männer. Das ist die größte Ungleichheit. In Katalonien sind wir 51% Frauen. Diese Ungleichheit gibt es in vielen Bereichen der Gesellschaft.
Die Männer fragen uns: Wenn Barcelona sich feminisiert (Rathaus, Landtag…), was bringt das zusätzlich?
Das bringt uns eine andere Sichtweise. Es ist auch ganz klar, dass wir für die Gleichberechtigung kämpfen müssen. Wenn viele Frauen das klar sehen, dann werden sie in dem Moment, wo man ihnen eine Position anbietet, den erfolgreichen Frauenmodellen folgen und sich nicht von der Verantwortung abschrecken lassen. Das kann also der Gleichberechtigung zuträglich sein. Frauen werden so ermutigt auch in der Politik zu arbeiten und etwas für ihre Situation zu tun. Es ermöglicht eine andere Sicht auf die Welt, weil wir Frauen die Welt anders erleben. Man kann also eine andere Perspektive, eine andere Art, Dinge zu erledigen, beitragen. Und das ist wichtig.
Welche ist die beste Waffe gegen die Ungerechtigkeiten zwischen Mann und Frau?
Das muss man global auf allen Ebenen angehen. Aber andererseits stimmt es auch, dass jede und jeder etwas machen kann. Wenn jeder einen kleinen Schritt macht, dann wird das ein großer Schritt. Jede kann in ihrem eigenen Umfeld in alltäglichen Taten etwas unternehmen. Wir Frauen müssen selbst etwas tun, in der Arbeit, in unserem familiären Leben. Wenn wir kleine persönliche Änderungen erzielen, dann können wir damit eine Meinungs- und Mentalitätsänderung in Gang bringen. Wir brauchen natürlich auch angemessene Politik, die die Gleichberechtigung in allen Bereichen fördert. In der Erziehung, im Gesundheitswesen, im Sozialwesen, in absolut allen. Aber auch alle Frauen – und wenn möglich alle Männer – müssen einen Schritt vorangehen, auch wenn es nur scheinbar kleine Dinge im Alltag sind. Gerade wir Frauen, die wir auch die Verantwortung für die Erziehung der Kinder haben, müssen jede diese kleinen Schritt gehen. Wenn wir unser Umfeld ändern, ändert sich auch die Mentalität. Wir tun das nicht nur für unsere Kinder sondern auch für unsere Mütter. Und wenn wir es auch vielleicht nicht für uns tun würden, sollten wir daran denken, es für andere Frauen zu tun.
Frau Forcadell, ich danke für das sehr anregende Gespräch.
von Ina Laiadhi
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