Neugierige Menschen machen die Welt frei
Ich treffe Ana Ramos, die seit drei Jahren die Fundación Mies van der Rohe leitet, im gleichnamigen Pavillon unterhalb des MNAC. Es regnet Bindfäden. Ungewöhnlich, aber willkommen. Ana Ramos schlägt vor, sich auf eine überdachte Marmorbank zu setzen, um das offene Gebäude zu genießen. Als der Regen stärker wird, ziehen wir uns in den Hauptraum zurück, wo wir auf eine Gruppe deutscher Abiturienten treffen, die die Kultmöbel und Teppich ganz unbedarft in Beschlag genommen hat. Ana Ramos bittet sie, die Ansicht des Raumes für die anderen Besucher freizumachen.
Warum gibt es in Barcelona eine Mies van der Rohe-Stiftung?
Der Architekt Oriol Bohigas erhielt schon in den 50er Jahren die Zustimmung von Mies van der Rohe, den deutschen Pavillon der Weltausstellung von 1929 wiederaufzubauen. Aber erst in den 80er Jahren war die politische und wirtschaftliche Situation so gut, dass das Projekt in Angriff genommen wurde. So wurde die Fundación 1983 von der Stadt Barcelona ins Leben gerufen.
100 Jahre Bauhaus. Welchen Einfluss hatte das Bauhaus auf die katalanische Architektur?
Der Einfluss des Bauhauses in der katalanischen Architektur war enorm. Katalanische Architekten wie Subirana oder Sert arbeiteten mit Gropius zusammen. So entstanden schon Ende der 20er Jahre Gebäude wie das Dispensario contra la Tuberculosisoder das Casa Vilaróin Barcelona, die eine rationale Architektur verkörpern. Bauhaus war im eigentlichen Sinne kein Stil. Es war eine Schule, bei der es darum ging, künstlerische Kreation, Serienproduktion und Architektur in Einklang zu bringen. Notwendigkeiten der Menschen sollten in ihrem Lebensumfeld beachtet werden. Es wurden ganz neue Materialien eingesetzt. Aus der Serienproduktion von Gebäuden entstand eine Architektur, die bis zum Exzess vereinfacht wurde. Man interpretierte dann, dass das das Erbe des Bauhauses sei. Für mich liegt die Essenz des Bauhauses dagegen darin, dass es eine Architektur ist, die vom Verstand, nicht der Verzierung her gestaltet wird. Darum ist jede rationalistische und funktionalistische Architektur von heute auf das Bauhaus zurückzuführen.
Im Bauhaus-Manifest haben sich die Unterzeichner verpflichtet, eine bessere Welt zu schaffen. Haben sie es erreicht?
Ja. Die Arbeiterwohnungen zum Beispiel wurden in den 20er Jahren sichtlich verbessert. Davor waren sie oft menschenunwürdig. Wir dürfen natürlich die Gebäude des Bürgertums nicht mit denen der Arbeiter vergleichen. Die Wohnverhältnisse im Raval waren fürchterlich. Wegen der Wohnraumforschung bekamen die Wohnungen trotz geringerer Geldinvestition mehr Licht und bessere Ventilation. Aber auch da hätte man noch etwas Besseres machen können, denn oft wurden die spirituellen Bedürfnisse vernachlässigt. Man braucht in der Wohnung auch Flächen ohne Zweckbestimmung, zur freien Gestaltung der Bewohner. Der Mies-van-der-Rohe-Preis 2019 ging an ein Projekt, das Sozialwohnungsblöcke mit zusätzlichen, zweckfreien Räumen ausgestattet hat.
Der typisch pragmatische Stil des Bauhauses war zukunftsgerichtet. Ist er heute noch Avantgarde?
Bauhaus ist weiter Avantgarde. Auch dieses zu einem Mekka oder Lourdes gewordene Gebäude ist für viele eine Überraschung, da wir es gewöhnt sind, Gebäude durch schwarz-weiß Fotos oder Filme zu erinnern. Als die Kostüme des triadischen Ballets von Oskar Schlemmer originalgetreu reproduziert wurden, erstaunten sie durch ihre Farbenpracht. Als dieser Pavillon aufgebaut wurde, erhielt er eine sehr schlechte Kritik. Welches Sakrileg! Die Experten waren perplex angesichts der warmen Farben, roter und grüner Marmor. Aber der Marmor kam aus den gleichen Steinbrüchen wie damals.
Die Architekten in Spanien, die man als GATEPAC oder GATCPAC kennt, haben nur wenige ihrer modernen Ideen umsetzen können. Die engagierten Fotos vom Leben im Raval von Margaret Michaelis machten in der Zeitschrift AC auf Missstände aufmerksam. Sie haben keine Marke wie das Bauhaus geschaffen.
Die Initiatoren und Initiatorinnen des Bauhauses wollten nach dem 1.Weltkrieg etwas ganz Neues schaffen. Sie glaubten daran, dass man etwas wesentlich Besseres schaffen konnte, und verwirklichten viele Ideen. Die hiesigen Architekten haben sich mit dem Bürgerkrieg in viele Länder verstreut. Der Austausch untereinander wurde dadurch nicht unterbrochen. Manchmal kam etwas über Amerika wieder zurück. Wie Sert in den 70er Jahren, als er dann die Fundación Miró baute. Bis zum Zeitpunkt, wo das Bauhaus entstand, war Architektur immer dem Geldgeber und seinen Machtansprüchen unterworfen. Die Bauhaus-Philosophie dagegen hat sich ohne Verpflichtung dem Volk zur Verfügung gestellt, nicht den Machthabern.
Welcher Austausch besteht zwischen deutschen und katalanischen Architekten?
In Europa gibt es eine gute Kommunikation. Gegenseitig kennt man die Architektur des anderen Landes. Die Fundación richtet den offiziellen Architekturpreis der Europäischen Union aus, den Mies-van-der Rohe-Preis. Der Preis geht alle zwei Jahre an die beste Architektur in den teilnehmenden 38 europäischen Ländern, die das Abkommen zum kulturellen Austausch unterschrieben haben, wozu zum Beispiel auch das Erasmus- Programm gehört. Dieses Jahr ging er an ein Architektenteam um die französische Architektin Anne Lacaton, das drei Sozialwohnungsgebäude in Bordeaux aus den 60er Jahren mit einem Vorbau um eine Art Windergarten erweiterte und so einen zusätzlichen, zweckfreien Raum für die Bewohner schuf. Die Bewertung der Projekte auf der Auswahlliste mit Besuchen durch die Juroren führt zu einem intensiven Dialog. Die Grenzen werden dadurch durchlässiger. Gerade die deutschen Architekten werden sehr bewundert, weil sie so eine hohe Qualität schaffen.
Außer vielleicht beim Flughafen Berlin… Wir lachen.
Die 3. Woche der Architektur in Barcelona ging gerade zu Ende. Brachte sie die Bewohner ihrem kulturellen Erbe näher?
Diese Woche wird zur gleichen Zeit organisiert wie zwei wichtige Events: die Verleihung des europäischen Architekturpreises und die Construmat Messe. Bekannte Architekten, Intellektuelle und der Industriesektor treffen sich in Barcelona. Vor drei Jahren entschieden wir gemeinsam mit dem Architektenverband, dass es für die Bewohnerinnen und Bewohner Barcelonas interessant wäre, wenn sie ihre Stadt architektonisch besser kennenlernten. Es wurde sehr gut angenommen, alle Veranstaltungen, Führungen oder Vorträge waren ausgebucht. Es ist eine perfekte Möglichkeit in Gebäude zu kommen, zu denen man sonst keinen Zutritt hat. Wir greifen mit dem Rathaus viele private Ideen auf, damit es sehr vielseitig wird. Dieses Jahr stand das Bauhaus wegen des 100. Jahrestages im Mittelpunkt. Bürgerinnen und Bürger sind sehr wissbegierig, auch moderne Architektur näher kennen zulernen. Auch das OpenHouse im Oktober wird immer sehr gut angenommen.
Lilly Reichs Rolle in der Bauhausbewegung wird seit Jahrzehnten außer Acht gelassen.
Lilly Reich war als Projektleiterin für das ganze Ausstellungsgelände berufen, denn sie war als fantastische Gestalterin von Ausstellungen und Messen bekannt. Deutschland war 1929 das Gastland. Zum ersten Mal seit dem 1. Weltkrieg war es wieder zu einem internationalen Event geladen. Das hing auch damit zusammen, dass die spanischen Könige durch familiäre Bindungen sehr deutsch freundlich waren. Reich arbeitete schon lange und eng mit „Die deutsche Seide“ in Krefeld, dem deutschen Werkbund oder Industriellen gestalterisch zusammen. Ihr wurde zudem zusammen mit Mies van der Rohe die Gestaltung des deutschen Pavillons übertragen. Das Interieur, die Stoffe, die Möbel und der dekorative Marmor gehen 100% auf ihr Konto. Sie hat 14 Jahren eng mit Mies van der Rohe zusammengearbeitet, aber als die Zusammenarbeit endete, entwarf Mies keine Möbel mehr…
Warum wurde die Stiftung nicht Lilly Reich Stiftung genannt?
Damals war sie noch in Vergessenheit. Wir von der Fundación haben deshalb das Lilly-Reich-Stipendium ins Leben gerufen. Als Anerkennung des architektonischen Erbes von Lilly Reich bei der Konzeption und Ausführung des Deutschen Pavillons, das in den Hintergrund gedrängt, wenn nicht ganz vergessen wurde, wurde dieses Stipendium ins Leben gerufen. Es unterstützt Forschungsprojekte, die sich der Verbreitung und Sichtbarmachung von Beiträgen in der Architektur widmen, die aufgrund persönlicher Umstände diskriminiert wurden, zu Unrecht verbannt oder in Vergessenh
eit geraten sind. Sie soll einen gleichberechtigten Zugang zur Architektur zu fördern. Das erste Stipendium wurde Laura Martínez de Guereñu 2018 für ihre Forschung zu Lilly Reich verliehen.
Welche Rolle spielen Frauen heute in der Architektur?
Die ersten Architektinnen erwarben ihre Diplome hier erst in den 60er Jahren. Ich denke, sie spielen heute eine wichtige Rolle. Unser diesjähriger Preis ging an ein Architektenteam um Anne Lacaton. Heute wissen wir, dass die Architektur nicht nur von einer oder einem einzelnen gestaltet wird, sondern von Teams, weil es zu komplex ist. Lacaton ist die Intellektuelle, sie vertritt ihre Ideen. Es ist wertvoll, dass wir Frauen Gesichter bekommen. Denn oft sind wichtige, kreative Frauen lieber im Hintergrund tätig, statt in der Öffentlichkeit einen Platz einzunehmen. Wir brauchen diese Sichtbarkeit als Vorbild für andere. Erfolgreiche Frauen begegnen in der Gesellschaft weiterhin vielen Vorurteilen und deshalb meiden sie sie.
Gebäude des gleichen Stils werden auf der ganzen Welt errichtet, immer höher. Welchen positiven Einfluss hatte die Globalisierung auf die Architektur?
Das ist interessant. Sie überlegt.Es gab diese Fehlinterpretation, dass moderne Architektur ein bestimmtes Image hatte. Es wurde nicht verstanden, dass man sich an die Funktion anpassen musste. Form follows function. Die Architektur der wirtschaftlichen Macht wurde mit Wolkenkratzern gleichgesetzt. Sie entsprechen nicht unbedingt den städtischen Gegebenheiten oder Notwendigkeiten. Es ist keine gute Nachricht, dass Architektur sich überall in den Städten wiederholt, dass der kulturelle Kontext wird komplett außen vor gelassen wird. Für Bewohnerinnen und Bewohner ist wesentlich, dass ihr Lebensstil berücksichtigt wird. In den 50er Jahren gab es die Bewegung des kritischen Rationalismus, wo zwar alles rational geplant wurde, unter Einbeziehung lokaler Materialien, des Klimas etc. Diese Bewegung gibt es weiterhin. Der Mensch und sein Umfeld sollten im Vordergrund stehen. Gerade in Schwellenländern sehen wir jedoch, dass sich Machtdenken besonders in riesigen, gläsernen Wolkenkratzern ausdrückt. Visuell gesehen beindruckt ein Wolkenkratzer natürlich ganz anders als ein gut durchdachtes Gebäude. Vielleicht wird diese Hochhauskultur aus Nachhaltigkeitsgründen verschwinden.
Was bedeutet die aktuelle Architektur für Sie?
Der Mies-van-der-Rohe-Preis zeichnet nicht die Wolkenkratzer-Kultur aus, sondern Projekte, die sich mit den Wünschen der Menschen auseinandersetzen. Was brauchen sie? Wie können Umwelt- und wirtschaftliche Auswirkungen verringert werden? In Europa haben wir noch eine andere, zeitgemäßere Position. Es gibt europäische Architekten, die für eine Architektur kämpfen, die im Frieden mit der Zukunft aller ist.
Ist das Individuum heute freier oder gefangener?
Das Individuum ist heute freier. Nie ging es der Menschheit so gut wie heute. Nie. Obwohl es manchmal so aussieht, als würden wir uns gerne auf kleine Probleme konzentrieren. Wenn es neue Probleme gibt, werden wir einen Weg finden, wie man sie löst. Viele haben hier keinen Krieg erlebt. Unsere Eltern und Großeltern, ja. Europa hat in der Geschichte nie mehr Wohlstand als jetzt erlebt. In anderen Ländern versuchen wir zu unterstützen, ohne das Leben anderer zu zerstören, die Bildung zu verbessern und die öffentliche Gesundheit zu fördern. Wohin das führt, gerade wenn man sich in diesem Raum mit jungen Leuten umsieht, die nur auf ihren Telefonbildschirm konzentriert sind, anstatt diesen Raum zu betrachten, wissen wir nicht.
Wir müssen jeden Tag kämpfen, um die Neugier von Mitbewohnerinnen und Mitbewohner unseres Lebens zu wecken, denn neugierige Menschen machen die Welt frei.
Ana Ramos, wir danken für das sehr „erbauliche“ Gespräch.
von Ina Laiadhi
Schlagwörter: Biografisches, Frauen, Interviews, Kultur, Museen und Sehenswürdigkeiten