Und als der Morgen dämmert, verstummt sie…
In dieser Ausgabe will ich eine Lanze brechen für Scheherazade, die Hauptfigur aus 1001 Nacht. Wer kennt sie nicht?! Ich will nicht lange auf diese Geschichte eingehen, nur kurz das Wesentliche in Erinnerung rufen.
In diesem Roman ohne bekannten Autor oder Autorin entscheidet der König an einem Hof im Orient, dass er sich jeden Tag verheiratet und aus seinem Hass auf alle Frauen bei Tagesanbruch die neue Gemahlin enthaupten lässt. (Denn er ist psychisch krank.) Jeden Morgen kündigt er eine weitere Heirat an, bis zu dem Tag, als Scheherazade ausgesucht wird. Die frisch vermählte Scheherazade will aber nicht sterben. Sie will ihr Leben retten und das der anderen Frauen. Sie findet die magische Lösung, indem sie dem König jede Nacht bis zum Morgengrauen eine fesselnde Geschichte erzählt. Sie sagt ihm, dass sie nicht weitererzählen kann, auch er ist müde und lässt sich darauf ein, dass sie die Geschichte erst in der nächsten Nacht weitererzählt. Sie hat das Erzählen aus dieser drastischen Not – am Leben zu bleiben – neu erfunden. Sie erzählt Geschichten mit offenem Ende oder einem Cliffhanger, sodass sie niemals aufhören. Diese Erzählkunst und List dauert zwei Jahre, acht Monate und 29 Nächte. Scheherazade mit ihren Kindern ist gerettet und der König von seinem Hass kuriert. Leider hat die Welt von dieser Geschichte hauptsächlich die folkloristischen Geschichten behalten und nicht diese Geschichte von Scheherazade selbst, die für das eigene Überleben und das anderer Frauen kämpfte.
Nach Schätzungen der Vereinten Nationen werden weltweit täglich 137 Frauen von einem Familienmitglied oder (Ex-)-Partner getötet. Der Index der Femizide oder feminicidios pro 100.000 lag 2021 in Deutschland bei 0,87 und in Spanien bei 0,49. Wenn es so viele Opfer trotz eindeutiger Strafbarkeit gibt, dann ist klar, dass die Bewusstmachung noch viel Spiel nach oben hat. Frauen erleiden heute immer noch Macho-Gewalt wie zu Zeiten von Scheherazade.
Man könnte sagen, dass diese großartige Intellektuelle, die außergewöhnlich belesen war und deren Erzählungen für 1001 Nächte reichten, nicht nur den Grundstein für die cliffhängende Erzählweise von soap-operas gelegt hat, sondern eigentlich die Psychologie begründet hat.
Von Ina Laiadhi, Chefredakteurin, Editorial TS 150, Februar 2022
Schlagwörter: Frauen, Literatur