Die Vergangenheit ist nie vergangen
Ich treffe Montse Iniesta auf einen Tee bei einer Freundin an einer der pulsierenden Hauptadern Barcelonas. Sie nahm sich zwischen zwei Terminen Zeit für den TaschenSpiegel.
Sie sind eine facettenreiche Frau, Anthropologin, Historikerin, Museologin, Geografin. Wie möchten Sie sich unseren Lesern vorstellen?
Ich bewege mich im Bereich der Sozialwissenschaften und des kulturellen Erbes. Ich habe zunächst Geschichte studiert, mangels Abschlussmöglichkeiten in Anthropologie, was damals weder in Katalonien noch in Spanien studiert werden konnte. Mich interessiert in der Kulturanthropologie die Weitergabe des Kulturerbes. Ich fuhr also in andere Länder, um mich zu weiterbilden, Praktika zu machen und zu studieren.Ich habe mich auf Museen spezialisiert, bevor ich mich einer umfassenderen Vision der Verwaltung des kulturellen Erbes zugewandt habe. Was mich in den letzten Jahren am meisten beschäftigt hat, ist das öffentliche Gedächtnis. Wie wird es kollektiv in der Institutionali-sierung von Erinnerungen formuliert? Wie werden öffentliche Erinnerungspolitiken erzeugt? In Memory Studies forschen Experten aus Philosophie, Politikwissenschaft, Historik, Kulturanthropologie, Kulturerbe, Geisteswissenschaften oder Forensik bereichsübergreifend.
Dies fällt mit der sogenannten Wende im Gedenken in den 80er, 90er Jahren zusammen. Der Erinnerung bekam im Bereich der Sozialforschung einen neuen Stellenwert. Aktivismus und andere soziale Phänomene folgen. Die Zerstörung der Berliner Mauer und der Wegfall der sowjetischen Welt veränderte die Geopolitik des Planeten. Dies hatte weitgehende Auswirkungen auf die Achsen, in denen die Erinnerung fixiert waren, und direkt auf die Weitergabe der Vergangenheit. Das bedeutet Erinnerung.Sie leiten seit 2017 das Zentrum für Kultur und
Erinnerung im Born. Was ist die Aufgabe dieses Zentrums?
Dieses städtische Kulturzentrum wurde als Born Cultural Center Ende 2013 eröffnet. Durch die politische Wende 2016 wurde es neu ausgerichtet und der Name in Born Cultural and Memory Center geändert. Der neue Stadtrat von Barcelona führte neue, öffentliche Strategien der Erinnerung ein. In nur drei Jahren etablierte es sich zum Referenzzentrum zur Umsetzung solcher Strategien. Das war kein Zufall. Das Zentrum wurde als Gedenkstätte für den Erbfolge-krieg und die Niederlage Kataloniens anlässlich des 300. Jubiläum des 11. September eröffnet. Mit der Neugestaltung des Zentrums wollten wir die interpretative Ausrichtung dieses Ortes umkehren.
Hat sich die katalanische Krise negativ auf das Zentrum ausgewirkt?
Die Antwort ist doppelt negativ. Wirtschaftlich nicht, da es zu 100% ein Stadtzentrum ist. Der Stadtrat von Barcelona war vom katalanischen Prozess, in den die gesamte Gesellschaft auf die eine oder andere Weise eintaucht, relativ unberührt. Es war eher die Generalitat, d.h. die Regionalregierung, die im Mittelpunkt des Prozesses stand. Die Institutionen des Stadtrats von Barcelona waren nicht direkt betroffen. Was dieses Zentrum aber merkwürdigerweise noch belastet, ist, dass es weiter als Symbol des Erbfolgekrieges von 1714 gilt. Dabei bieten sich weitaus umfangreichere Möglichkeiten an, diesen Ort zu interpretieren. Unser Katalog an Aktivitäten für die Öffentlichkeit ist viel umfassender. Der Ort wird von diesem Ereignis noch verfolgt.
Sie leiten das Zentrum mit einer fast ausschließlich weiblichen Mannschaft. Ist es ein Vorteil oder ein Nachteil?
Ich habe das Team bei meinem Antritt 2017 so übernommen. So ein funktionelles Team wird durch Verwaltungsverfahren der Stadt ernannt. Ich hatte nur eine relative Freiheit, Mitglieder meines Teams zu wählen. Die Verfahren sind sehr transparent. Ich freue mich natürlich, mit Frauen zu arbeiten. Im Kulturbereich dominieren sowieso Frauen, wenn auch nicht in Führungspositionen. Aber bei den Ausschreibungen stellen wir -Judith Carrera vom CCCB und ich – fest, dass wir dieses Verhältnis ausbalancieren. Unsere Kulturschaffenden sind sehr feminisiert.
Sie haben hat in Ländern wie Italien, Frankreich, Kanada oder Kolumbien gearbeitet. Was ist davon in Ihrer Erinnerung geblieben?
Ich wollte meine Erfahrungen erweitern. In Italien angefangen habe ich die sogenannten Volkskulturmuseen erkundet. In Italien lebt man die gramscianische Kultur, die sich auf subalterne Kulturen konzentriert. Das sind jene Stimmen, die normalerweise in der offiziellen Ge-schichte nicht auftreten. Die Museologie und insbesondere die ethnographische Museologie aus den 80er Jahren sind sehr aktiv, besonders im Bereich der Anthropologie. Die lokalen, ländlichen oder sogar industriellen Museen stellen eine andere Vision her, die nicht von der bildenden Kunst oder von elitären Kulturen, sondern von subalternen Kulturen geprägt ist.In Mexiko und Lateinamerika gibt es viele Gemeindemuseen. Dort war spannend, dass sie die Botschaft der Museen vor allem Analphabeten näher bringen wollten, auch wenn sie sich eher allem widersetzten, was die Institutionalität des Staates bedeutete. Durch die Vermittlung von sozial engagierten Anthropologen, wurde in der Debatte die Sprache der Museen verbessert, damit die Bewohner ihre eigene Kultur und ihr Erbe wertschätzen lernten. Das hat meine Aufmerksamkeit erregt.In Kolumbien wurde bereits über das Ende des Konflikts verhandelt. Dort habe ich mich auf die Erinnerung an Konflikte und schwierige Erinnerungen konzentriert. Wie sie sich langfristig auswirken und wie sich dramatische Erfahrungen auf persönlicher und kollektiver Ebene mit dem Erleben der Gegenwart verwurzeln können.
Die Kultur in Europa ist ein Thema, das uns am wenigsten interessiert. Sie arbeiten im CRIC-Projekt (Cultural Narratives of Crisis and Renewal) mit der Europäischen Union zusammen. Glauben Sie, dass es eines Tages einen gemeinsamen Kulturmarkt geben wird?
Ich habe mit dem CRIC-Team zusammengewirkt, bis ich anfing, hier zu arbeiten. Die Antwort kann ambivalent sein. Offensichtlich verbinden wir mit Kultur eine institutionalisierte, kulturelle Aktion, die seit jeher als symbolischer Faktor für die Kraft des Zusammenlebens oder der Diplomatie angesehen wird. Es ist der bevorzugte Kanal, um Zusammen-leben zu institutionalisieren. Aber auch wer etwas zerstören möchte, kann Kultur und kulturelle Symbole verwenden. Institutionalisierte Kultur, sei es durch die museale Einrichtung, das kulturelle Erbe oder die Literatur, dient oft diesem Zweck. Offizielle Reden führen, die theo-retisch kollektive Aussagen übersetzen. Das Haus der europäischen Geschichte im Europäischen Parlament z. B. wird von Historikern äußerst kritisiert.Die Kultur im Kleinen, d.h. die Praktiken, die soziale Gruppen, Gemeinschaften und gemeinsam handelnde Menschen entwickeln, können uns dagegen retten. Weil es Bindungen über Zusammenarbeit, Konstruktion oder gemeinsame Projekte gibt. Ich glaube viel mehr daran als an die institutionelle Politik. Die institutionelle Politik wird zu offiziellen Reden führen. Man versucht, Geschichte so zu etablieren, dass Europa eine Kultur mit gemeinsamen, kulturellen Achsen in der Geschichte hat und dass es daher eine gemeinsame Zukunft gibt.
Sie könnten aber auch eine andere Geschichte schreiben. Sie lacht. Was zählt, ist, dass wir wissen, wie wir diese andere Kultur der Gemeinschaftsbeziehungen und der effektiven Zusammenarbeit beim Aufbau von künstlerischen Projekten, von Forschungszusammenarbeit, vom Zusammenleben nutzen können.
Bis 2021 gibt es im BCCM ein Projekt zum Phänomen der Berliner Mauer.
Ja, in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut. Das Projekt steht für das Memoria in unserem Namen. Es besteht darin, die 8000 m² unseres städtischen Raums, der mehr als 18 Jahrhunderte der Geschichte Barcelonas umfasst, und die gesammelten sozialen und menschlichen Erfahrungen zu nutzen. Dieser urbane Raum ist für uns eine Ressource, die es uns ermöglicht, den Bürgern Vorschläge zu unterbreiten, um über die Geschichte nachzudenken, nicht nur über die Erinnerung, mit der w
ir Beziehungen zur Vergangenheit aufbauen. Das muss immer zeitgemäß sein. Wir denken darüber nach, wie wir über die Vergan-genheit denken. Wir provozieren, um eine gemeinsame Reflexion über die Rolle der Vergangenheit in der Gegen-wart anzuregen.
Das Projekt „Paradigma Mur“ verfehlt dieses Ziel nicht. Warum? Gedenken ist einer dieser Anlässe, der in westlichen Gesellschaften eingesetzt wird, um die Erinnerung an einen Moment, der für unsere Gesellschaft von Bedeutung ist, zu institutionalisieren. Daher erinnert die Stadt weiterhin an Ereignisse.
2019 jährte sich Mauerfall zum 30. Mal. Es ist ein Anlass, ein Programm zu starten, um darüber nachzudenken. Worüber? Die Mauer selbst? Die Geschichte ist bereits erklärt. Was kann diese Ikone, das Mauerobjekt, der Moment der Zerstörung der Berliner Mauer, für uns bedeuten? Es war ein geopolitischer Wandel, nicht nur in Europa, sondern auch in der Welt. Unsere Herangehensweise an die Berliner Mauer verändert Geschichte, Themen der Vergangenheit werden aufgriffen. Wie sehen wir Ost und West? Wir organisieren so ein kulturelles Projekt, das uns hilft, diese Art von Reflexionen zu entwickeln, die uns in die Gegenwart führen. Worin liegt die Aktualität von Mauern? Wie leben die Mauern in der Gegenwart? Welche Auswirkungen hatte das, was 1989 geschah, auf unser Heute?
Schade, dass weiterhin mehr Mauern entstehen als Brücken.
Aus diesem Grund reichen die Grenzen dieses Projekts vom dreißigsten Jahrestag der Zerstörung der Mauer bis zum sechzigsten Jahrestag ihres Baus 2021.
Das Zentrum ist wie eine Stadt über einer anderen. 1876 war hier der erste Markt, der aus Eisen und Glas gebaut wurde. Ein Symbol für die Moderne der Zeit. Bewahren die Nostalgiker noch das Image des Obst- und Gemüsemarktes?
Ja, Nostalgie sagt nicht alles. Die Erinnerung an Marktaktivitäten ist ein Wert, an dem viel zu arbeiten sein wird. Weil er nicht nur das ist. Er war hundert Jahre lang ein zentraler Platz, der der gesamten Umgebung ein außergewöhnliches Leben und Energie verlieh. Als er schloss, als seine Aktivität aufhörte, veränderte sich die Nachbarschaft sehr. Die Anlieger forderten das Gebäude für sich selbst, ihren Stadtteil. Darum ist es auch im negativen Sinn bedeutend, dass bei der Wiederherstellung dieses Ortes der Erinnerung einem Aspekt so viel Vorrang vor allen anderen gegeben wurde. Das müssen wir ausgleichen, damit er in der kollektiven Vorstellung nicht nur eine archäologische Stätte ist. Das Born ist ein Palimpsest von Barcelona. Es wird immer wieder neu „beschrieben“. Eine Stadt über einer anderen, über einer anderen, über einer anderen. Es ist eine Art Schacht, der uns vom 3. Jahrhundert nach Christus bis zum 21. Jahrhundert vereint. Unter dem 18. Jahrhundert graben wir heute Überreste des 14. Jahr-hunderts aus, sogar römische Überreste sind aufgetaucht. Das ist die Kraft eines solchen Ortes. Wir können mit all dieser Komplexität im Dialog bleiben, um Zeit in einer Stadt zu etablieren.
Sie haben Museen für Wasser, Öl oder Wein (Vinseum) geleitet. Was würden Sie gern machen? In die Politik gehen?
Nein. Sie lacht laut. Auf keinen Fall. Ich behaupte, dass jeder Bürger und jede Bürgerin Politiker ist, sofern er/ sie an der Gesellschaft teilnimmt. Wir sind alle politische Wesen. In diesem Sinne bin ich eine politische Seele. Aber nicht um Berufspolitik zu betreiben. Ich habe dazu überhaupt keine Berufung.
Dra. Iniesta, wir danken für diese sehr interessante Gespräch.
Von Ina Laiadhi
Info: El Born Centre de Cultura y Memoria
Plaza Comercial, 12
elbornculturaimemoria.barcelona.cat/es/
Schlagwörter: Europa, Frauen, Interviews