Klima ohne Grenzen
Anlässlich der bevorstehenden Europawahl kam uns der Gedanke, eine Abgeordnete des europäischen Parlaments ins Straßburg zu interviewen. Die Wahl fiel auf Terry Reintke, eine engagierte, junge Politikerin aus Gelsenkirchen, die seit fünf Jahren für Bündnis 90/Die Grünen im Europäischen Parlament sitzt. Sie setzt sich u.a. für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten, für regionale Entwicklung und für die Rechte der Frau und die Gleichstellung der Geschlechter ein. Trotz des Zeitdrucks wegen des aktuellen Wahlkampfes beantwortete sie ausführlich unsere Fragen.
Frau Reintke, wie sind Sie zur Politik gekommen? Gab es einen konkreten Auslöser für die Politik der Ökologie?
Ein ganz zentraler Moment, der mich stark politisiert hat, war der Ausbruch des Irakkriegs. Ich war dagegen, dass Deutschland sich an diesem militärischen Einsatz beteiligen sollte. Ich habe meine erste Schüler*innen-Demo mitorganisiert und das war für mich die Initialzündung: Ich habe eine Stimme, ich kann mich einmischen und gemeinsam mit anderen etwas verändern. Diese Art der Politisierung können wir auch gerade bei den weltweiten Schüler*innenstreiks für das Klima beobachten. Eine ganze Generation steht auf und fordert politische Verantwortung ein – über Landesgrenzen hinweg.
Kann frau die Ökologie besser in der Politik oder in einer Bewegung verteidigen?
Für mich gehören diese beiden Dinge zusammen. Wenn wir Aktivismus und Parlamentarismus zusammenbringen, können wir Veränderung vorantreiben. Begegnungen mit Aktivist*innen geben mir Energie, um im Parlament – manchmal doch sehr langwierige – Prozesse voranzutreiben. Erst zu Beginn dieses Monats haben wir Klimaaktivist*innen aus ganz Europa in das Parlament nach Straßburg eingeladen. Damit konnten wir den Druck auf die Volksparteien erhöhen, im Bereich Klimapolitik endlich voranzugehen. Wir können uns diese Blockadehaltung nicht länger leisten.
Sie sind seit fünf Jahren Abgeordnete im EU-Parlament. Was hat Ihnen das für Ihren Kampfgebracht?
Wir konnten einiges Voranbringen, auch wenn noch viel zu tun bleibt. So konnte ich zum Beispiel Sprachrohr sein für polnische Frauen*, als sie ein völliges Abtreibungsverbot in Polen verhindert haben. Ich konnte türkische LGBTI*-Aktivist*innen in ihrem Kampf für ihre Grundrechte und gegen Diskriminierung unterstützen. Gleichzeitig, habe ich im Parlament ganz konkret bei der Revision der Entsenderichtlinie für ein sozialeres Europa gestritten. In den Verhandlungen habe ich durchsetzen können, dass der Ausbeutung entsandter Arbeitnehmer*innen im europäischen Raum durch bessere Löhne und mehr Rechtssicherheit entgegengewirkt wird.
Wie sieht Ihre feministische Vision der EU aus?
Der feministische Kampf wird viel zu oft auf die ökonomische Gleichberechtigung der Geschlechter reduziert. Dabei hat Politik, die feministisch orientiert ist, viel mehr zu bieten. Sie öffnet neue Perspektiven, auch in Politikfeldern, die scheinbar wenig mit Geschlechterverhältnissen zu tun haben, sei es in Klima-, Außen- oder Migrationspolitik. Von einer feministischen EU profitieren alle Mitglieder der Gesellschaft. Ich streite für ein Europa, in dem jede und jeder lieben kann wie und wen sie* oder er* will.
Sind Frauen gut in den Institutionen der EU vertreten?
Leider nicht. Derzeit sind gerade einmal 271 von 751 Abgeordneten und nur zwei von elf Fraktionsvorsitzenden im Europäischen Parlament weiblich. Junge Frauen* sind besonders unterrepräsentiert. Dieses Bild spiegelt sich in allen Institutionen der EU wider. Als Repräsentant*innen der europäischen Bevölkerung tragen wir eine besondere Verantwortung für ausgewogenere Geschlechterverhältnisse in den Institutionen. Gerade deshalb ist es wichtig, dass alle Parteien nicht nur über die Gleichstellung der Geschlechter reden, sondern diese in den eigenen Reihen praktizieren.
Hat es die #MeToo- Debatte geschafft, die Kultur des Schweigens zu brechen?
Teilweise, ja. Die Berichterstattung über #MeToo hat vielen vor Augen geführt, dass es sich bei sexueller Belästigung und Gewalt um ein strukturelles Problem handelt. Es geht vor allem um eins: Um Macht. Die Bewusstwerdung darüber ist ein großer Erfolg – es wurde aber auch Zeit dafür. Als Folge haben wir im Europäischen Parlament erste Reformen angestoßen. Wir sind aber noch lange nicht am Ziel. So sehen wir beispielsweise die dringende Notwendigkeit für ein sensibleres Meldeverfahren. Wir müssen verhindern, dass sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz aus Angst vor dem Verlust der Arbeitsstelle nicht gemeldet wird. Die nationalen Parlamente müssen jetzt mit eigenen Reformen nachziehen. Außerdem gilt weiterhin, dass wir nicht erst dann ansetzen dürfen, wenn bereits ein Straftatbestand vorliegt. Dem Vorbeugen von sexueller Gewalt und der Begleitung von Betroffenen müssen genauso große Bedeutung eingeräumt werden wie der strafrechtlichen Verfolgung der Täter*innen.
Man sagt, dass sich die EU-Institutionen weit von den Bürgerinnen und Bürgern entfernt haben. Wie können sie einander wieder nähergebracht werden?
Es liegt vor allem an uns Abgeordneten, den Bürger*innen zu zeigen, dass sich die EU-Institutionen mit Leidenschaft für die Interessen der Europäer*innen einsetzen und diese nicht wie Technokrat*innen abhandeln. Wir kämpfen für die Interessen der Bürger*innen. Als es zur Brexit-Abstimmung kam, wurden die Menschen mit Falschinformationen bombardiert. Da war das Gefühl der Entfremdung enorm, vor allem in den strukturschwachen Regionen Großbritanniens, denen bisher nicht genug Aufmerksamkeit gewidmet wurde. In den chaotischen zwei Jahren nach der Abstimmung hat sich aber herausgestellt, dass Großbritannien und die EU mehr eint, als zuvor behauptet wurde. In den Mitgliedsstaaten insgesamt sind die Zustimmungswerte der EU gegenüber in der Zwischenzeit auf ein Rekordhoch gestiegen. Das gibt mir Hoffnung, dass wir durch ein gerechteres und sichtbareres Europa auch diejenigen abholen können, die sich von den Institutionen abgehängt fühlen.
Bedroht der wachsende Populismus in den europäischen Staaten die EU?
Definitiv. Ich sehe vor allem die Rechte von Minderheiten durch den erstarkenden Populismus gefährdet. Hier wird bewusst eine menschenverachtende Politik propagiert. Dieser Backlashist eine grundsätzliche Bedrohung für die europäische Idee. Wir dürfen nicht vor den Populist*innen und ihrer rückschrittlichen Agenda einknicken und zulassen, dass sie Europa von innen zersetzen.
Spanien lebt einen identitären, politischen und juristischen Konflikt. Kann die EU eine Rolle spielen, um die Ideen anzunähern?
Unsere Fraktion hat bereits auf dem Höhepunkt der Eskalation zwischen Spanien und Katalonien, eine Schlichtung seitens der Kommission und von Präsident Juncker gefordert. Es darf jetzt zu keiner weiteren Eskalation kommen. Weder bei dem Prozess gegen die zwölf katalanischen Politiker*innen, noch bei den Neuwahlen Ende April. Damit die Lage sich beruhigt, müssen die inhaftierten Politiker*innen aus der Untersuchungshaft entlassen und einem fairen Prozess unterzogen werden.
Angesicht aller Probleme, denen sich die EU gerade stellen muss: Ist die Union nur ein Traum oder Wirklichkeit?
Sie ist Wirklichkeit. Auch wenn diese Wirklichkeit sich vom erträumten Ideal wegzubewegen scheint. Der zunehmende Populismus, Euroskeptizismus, Rückschläge seitens ultrareaktionärer Netzwerke – das alles verunsichert die Menschen. Ungeachtet dieser Unsicherheiten ist und bleibt die Europäische Union Hoffnungsträgerin. Ich möchte den Traum eines Europas der Vielfalt nicht aufgeben. Ich bin im Europäischen Parlament, damit sich die Wirklichkeit dem Traum annähern kann.
Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen warnen uns vor dem Sterben der Insekten, besonders der Bienen, der Vögel und der Erderwärmung. Das ist eine katastrophale Bestandsaufnahme. Wie denken und handeln die Grünen?
Als Grüne sind wir davon überzeugt, dass sich die Herausforderungen, vor denen Europa steht, nur global lösen lassen. Wir sind uns bewusst, dass die Klimakrise nicht an den europäischen Grenzen Halt machen wird. Deshalb setzen wir uns dafür ein, dass die Biodiversität durch strengere Richtlinien erhalten und dass der Einsatz von Pestiziden eingeschränkt und besser kontrolliert wird. Vor allem aber pochen wir darauf, dass die Ziele des Pariser Klimaabkommens eingehalten werden, denn davon, wie weit
wir die menschengemachte Erwärmung zunehmen lassen, hängen all diese Fragen ab.
Ein Wort zum Schluss: Was möchten Sie den Europäerinnen und Europäern sagen?
Jetzt kommt es auf Sie an. Am 26. Mai sind Wahlen. Mischen Sie sich ein. Wir müssen uns stärker denn je für die europäische Idee einsetzen. Das gelingt uns nur, wenn wir den Dialog miteinander suchen.
Fr. Reintke,
wir danken für die ausführlichen Antworten.
https://terryreintke.eu/
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